© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/16 / 20. Mai 2016

Die Rückkehr des Reichs der Mitte
Mit einer Revision der Kulturrevolution nach 1966 wollen Maos Erben heute wieder an Chinas Glanzzeit anknüpfen / Teil 2
Peter Kuntze

Wer als Staat auf der weltpolitischen Bühne eine entscheidende Rolle spielen will, muß auch bei den weichen Faktoren der Macht entsprechend gerüstet sein. Die harten, gleichsam das Fundament, sind eine starke Wirtschaft, solide Finanzen und eine schlagkräftige Armee. Zu den weichen Faktoren zählen der geistig-kulturelle Habitus eines Landes, Wissenschaft und Innovationskraft sowie Kunst, Literatur, Film, Mode. Diesen Ansprüchen genügt China auf fast allen Feldern von Tag zu Tag mehr. In wenigen Jahren dürfte wahr werden, was Staats- und Parteichef Xi Jinping als „Traum“ seiner Landsleute propagiert: die „Wiedergeburt der chinesischen Nation“. Schlüssel des Erfolgs ist Chinas zweite, die wahre Kulturrevolution, die Planwirtschaft und rigoroses Gleichheitsstreben durch gelenkte Marktwirtschaft und individuelle Leistung ersetzt hat. 

Nach Maos Tod 1976 gelang es Peking dank Deng Xiaopings Reform- und Öffnungspolitik, das Milliardenvolk in nur drei Jahrzehnten aus bitterer Armut zu bescheidenem Wohlstand zu führen. Jetzt hat die Regierung, allen Unkenrufen zum Trotz, erfolgreich den Strukturwandel eingeleitet – weg von billiger Massenproduktion und hohen Überschüssen hin zu mehr Dienstleistungen und Innovation. Für etwaige Krisen wegen des geringeren Wachstums ist die zweitstärkste Volkswirtschaft mit Devisenreserven von drei Billionen Dollar gewappnet. Den Yuan hat der Internationale Währungsfonds vor kurzem nach Dollar und Euro als drittwichtigste Währung eingestuft. 

Seit Jahren gehen Unternehmen auf Einkaufstour im Westen. Allein im vergangenen Jahrzehnt haben sich Chinas Auslandsinvestitionen auf jährlich mehr als zehn Milliarden Dollar verzehnfacht. Bevorzugte Branchen sind Pharmazie, Informationstechnik, der Unterhaltungssektor sowie Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie. Bei der Digitalisierung liegt die Volksrepublik weltweit an fünfter Stelle – vor Deutschland, das zurückgefallen ist. Immer mehr chinesische Starts-ups schreiben Erfolgsgeschichte, so eine Firma aus Shenzhen, die 2006  von einem Studenten gegründet wurde und führend in der Produktion ziviler Drohnen ist. Xiaomi, ein 2010 gegründetes Handy-Unternehmen, war 2014 drittgrößter Verkäufer von Smartphones; diese Position nahm im vergangenen Jahr das inländische Konkurrenzunternehmen Huawei ein. Weltmarktführer bei PCs und Laptops ist seit längerem der chinesische Konzern Lenovo. Beim Bau modernster Hochgeschwindigkeitszüge hat Peking mittlerweile alle Konkurrenten abgehängt. 

Während sich Europa von Krise zu Krise schleppt und die USA nach militärischen Schlappen zutiefst verunsichert sind, strahlt China Optimismus und Selbstbewußtsein aus. Mögen westliche Beobachter auch die Menschenrechtslage beklagen – die überwältigende Mehrheit der 1,3 Milliarden Chinesen ist stolz auf das bisher Erreichte, und Xi Jinping, nach Mao die stärkste Führungspersönlichkeit, gilt im Volk wegen seines entschlossenen Vorgehens gegen die Korruption, das Krebsübel jeder Einparteien-Herrschaft, als äußerst beliebt. 

Berufung auf Konfuzius galt lange als konterrevolutionär

Den gravierenden Kontrast zur Mao-Ära zeigt die Einstellung zum Konfuzianismus, der über 2.000 Jahre lang Denken und Leben der Chinesen geprägt hat. 1974 hieß es von den Linken um Mao: „Die Geschichte hat bewiesen, daß alle Reaktionäre, die für die Restauration der alten Ordnung arbeiten, ausnahmslos ihre Zuflucht zum Geist des Konfuzianismus nehmen.“ Aus dieser Sicht müßten die Staats- und Parteiführungen seit Maos Tod der „Konterrevolution“ beschuldigt werden, denn sie haben den Konfuzianismus rehabilitiert und Qufu, den von Roten Garden demolierten Heimatort des „Meisters Kung“, wiederherrichten lassen.

Bildungsdrang, Disziplin, Fleiß und kindlicher Gehorsam gelten erneut als selbstverständliche Tugenden. Die Herrschenden werden nicht müde, angesichts des grassierenden Materialismus, der wachsenden sozialen Ungleichheit und der ökologischen Schäden an das Volk im Geist des Konfuzianismus zu appellieren, nach „Harmonie“ sowohl in der Gesellschaft als auch zwischen Mensch und Natur zu streben. Als Xi Jinping 2013 Qufu besuchte, rief er dazu auf, „die traditionelle Kultur weiterzutragen und überall konfuzianisches Denken zu verbreiten“. Seit 2004 hat Peking in mehr als hundert Staaten 500 Konfuzius-Institute eröffnet, um für Sprache und Kultur des Landes zu werben. Die Volksrepublik möchte eines Tages an die glorreiche Zeit des 17. und 18. Jahrhunderts anknüpfen, als China in Europa als vorbildlich regiertes Land galt. 

Nicht nur Voltaire, auch die Aufklärer Leibniz und Christian Wolff hatten sich damals vom „Reich der Mitte“ inspirieren lassen. Als Prorektor der Universität Halle erregte Wolff 1721 mit seiner „Rede über die praktische Philosophie der Chinesen“ großes Aufsehen. Zum Ärger der Pietisten, die ihn des Amtes enthoben, erklärte er, obwohl die Chinesen weder an Gott noch an ein Leben nach dem Tod glaubten, besäßen sie die beste Staatsordnung und ein nachahmenswertes Bildungswesen. Grundlagen seien die Lehren des Konfuzius, deren Kardinaltugend die „Menschlichkeit“ als Quelle aller Einzeltugenden sei. Jeder, der nach dieser Tugend strebe, gehe Konfuzius zufolge den Weg des „Edlen“ und trage dazu bei, die Harmonie mit der ewigen Weltordnung herzustellen. 

Ende 2015 hat das chinesische Erziehungsministerium die „Vier Bücher“, kanonische Texte des Konfuzianismus, sowie die „Fünf Klassiker“, von Konfuzius empfohlene Werke der Literatur, in die Leseliste für Grund- und Mittelschüler aufgenommen. Als eine der „Quintessenzen der chinesischen Kultur“ soll die Peking-Oper noch in diesem Jahr Teil der Lehrpläne aller hauptstädtischen Grund- und Mittelschulen werden. Das einstige Reich der Mitte, so scheint es, rückt allmählich näher – diesmal nicht in selbstgefälliger Abschottung, sondern als global player, der sich der Welt geöffnet hat und die Vormachtstellung der USA herausfordert.






Peter Kuntze, ehemaliger Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, ist Autor des Buches „Chinas konservative Revolution oder Die Neurordnung der Welt“ (Schnellroda 2014).