© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/16 / 20. Mai 2016

Er beherrschte das Handwerk des Tötens
Koordinator antizaristischer Gewaltaktionen: Boris Sawinkows „Roman eines Terroristen“ erscheint erstmals komplett in deutscher Übersetzung
Felix Dirsch

Seit den von Islamisten verübten Anschlägen in Europa ist der Terror als Thema allgegenwärtig, die Atmosphäre des Schreckens und der Angst inbegriffen. Nicht selten wird die Frage gestellt, was in Menschen vorgeht, die sich in die Luft sprengen und zahlreiche Unschuldige mit in den Tod zu reißen. 

Vor einem solchen Hintergrund rücken eine Epoche und ein Staatsgebilde näher, die mit vergleichbaren Erscheinungen konfrontiert waren: das Russische Reich vor dem Ersten Weltkrieg. Boris Sawinkows Roman „Das fahle Pferd“ liefert aus erster Hand das Psychogramm eines Terroristen. Das Werk wird nicht selten mit Tolstois und Dostojewskis Weltbestsellern in einem Atemzug genannt, die ebenfalls Einblick in das Innenleben von Verbrechern und Nihilisten geben. Mehr noch als die beiden anderen weltliterarischen Größen wußte Sawinkow, was er seinem Helden George in den Mund legte: Der Verfasser war einer der Köpfe von Netzwerken, die Polizei und Bevölkerung in Aufruhr versetzten, Planer etlicher Mordaktionen gegen den verhaßten zaristischen Machtapparat. Er wurde verhaftet, zum Tode verurteilt, konnte jedoch nach Frankreich fliehen. Aus Langeweile sah sich der nun umstandshalber Arbeitslose genötigt, schriftlich Rechenschaft über sein „Handwerk“ abzulegen.

Immer größere Verstrickung in Gewalt, Unrecht, Terror

In den Wirren der Revolution kehrte Sawinkow in sein Heimatland zurück und erledigte verschiedene Aufgaben für das Kerenski-Regime. Überraschenderweise wurde aus dem erbitterten Feind des Zaren und von dessen Polizei bald ein ebenso überzeugter Gegner des Bolschewismus. Abermals verließ er sein Land. Die kommunistischen Machthaber lockten ihn erneut nach Rußland. Er kam schließlich in Haft. Bis heute ist ungeklärt, ob der mittlerweile in seinem Heimatland prominent gewordene Autor 1925 Suizid beging oder aus dem Fenster des Gefängnisses gestoßen wurde. Für beide Versionen existieren Belege.

Obwohl der Protagonist George O’Brian nicht identisch mit dem Verfasser ist, dürfte das Seelenleben der fiktiven Gestalt doch einiges über ihren Schöpfer verraten. Als das Manuskript entsteht, im Pariser Exil, durch die Unterstützung des Autorenpaares Dimitri Mereschkowski und Sinaida Hippius, schildert Sawinkow sein Innerstes: den Kick, ständig unter Starkstrom zu stehen und keine ruhige Minute zu besitzen, weil die Häscher der Gegenseite immer nah erscheinen – auch dann, wenn sie fern sind; das Mißtrauen zu Personen, die vertrauensselig erscheinen; die totzuschlagende und zu überbrückende Zeit, bis der nächste Countdown startet; schließlich die Wollust, die einen überkommt, wenn das Zielobjekt, der Generalgouverneur von Moskau, nach langen Wochen der Observation und diversen fehlgeschlagenen Versuchen doch noch zum Opfer wird – wohl wissend, daß sich dadurch die Gewaltspirale weiter dreht; zudem der Druck, der entsteht, weil es kein Zurück mehr gibt und eine immer größere Verstrickung in Gewalt, Unrecht, Terror und Gegenterror erfolgt. Recht kann es in diesem Krieg nicht geben, wie beide Seiten wissen. Ohne Todesgefahr ist eine solche existentialistisch wirkende Gestalt nicht mehr in der Lage weiterzuleben. Ebenso zeigt der Erzähler die Gefühlswelt der Gefährten des Terrorgroßmeisters: die Bombenbastler, die Überbringer des Sprengstoffes, die Planer und diejenigen, die den Rückraum absichern.

Die Akteure handeln in der Annahme, im Auftrag einer höheren Moral das absolute Böse zu vernichten. Dabei seien alle Mittel erlaubt. Nicht von ungefähr ist der Titel des Romans einer Stelle aus der Offenbarung des Johannes entnommen. Dieser Text rechtfertigt häufig in der Geschichte des Christentums endzeitlich motivierte Gewalt im Namen der erwarteten Wiederkunft Christi – ganz so, als gelte es, die eschatologische Umwälzung durch eine gerecht erscheinende Tat in Gang zu bringen. Das „rote Schwert“ ist es nunmehr, das der Menschheit das Heil bringen soll. Ausgerechnet der explizit gottlose George verkörpert die politisch-religiöse Leidenschaft, die später die atheistischen politischen Religionen des 20. Jahrhunderts, Kommunismus und Nationalsozialismus, oft an den Tag legen.

Der Roman wird ergänzt durch ein kompetentes Nachwort zur Biographie Sawinkows, das der Berliner Osteuropahistoriker Jörg Baberowski verfaßt hat. Darüber hinaus wird die Geschichte des Manuskripts durch die Betrachtungen des deutschrussischen Übersetzers Alexander Nitzberg näher beleuchtet. Wer entscheidende Momente der Geschichte Rußlands im letzten Jahrhundert verstehen will, kommt um die Lektüre Sawinkows nicht herum.

Boris Sawinkow: Das fahle Pferd. Roman eines Terroristen. Aus dem Russischen übersetzt und kommentiert von Alexander Nitzberg. Verlag Galiani, Berlin 2015, gebunden, 288 Seiten, 22,99 Euro