© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/16 / 20. Mai 2016

Schwer zu bezähmende Eitelkeit
Auf der Suche nach den Überlebenden des Schulsystems: Der Dokumentarfilm „Die Prüfung“ zeigt den Auswahlprozeß an einer Schauspielschule
Sebastian Hennig

Wenn die Bestätigung eines Studienplatzes am anderen Ende der Telefonverbindung derart sprachlose Begeisterung hervorruft, kann es wohl nur eine Schauspielschule sein. Die Aufwertung der Persönlichkeit ist da ohne Beispiel. Mit einer solchen Freudenbotschaft beginnt der Dokumentarfilm „Die Prüfung“.

Die Prüfer können die Begeisterung der Sieger nachvollziehen. Es sei tatsächlich wie ein Lottogewinn, unter fast 700 Bewerbern angenommen zu werden. Till Harms hat ein Aufnahmeprüfungsverfahren an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover vom ersten Vorspiel über sämtliche Siebungen bis zur Begrüßung der Studienanfänger gefilmt. Dieser Film ist so etwas wie eine veredelte Version jener nationalen Auswahl-Schauen für jugendliche Poseure und Sänger, die das Fernsehen seit Jahren bereits zeigt.

Durch Schneetreiben pilgern die hoffnungsvollen Massen mit ihren Taschen und Rollkoffern von der Straßenbahnhaltestelle herauf in das Hochschulgebäude, viele nicht zum ersten Mal. Einer der gescheiterten Adepten wird sich später mit einem „Bis zum nächsten Jahr“ in die betreten schauenden Gesichter seiner Prüfer verabschieden.

Die Angetretenen haben sich einer peinlichen Prüfung zu unterziehen. Für den Zuschauer ist es zuweilen qualvoll. Die Kamera beobachtet die Gesichter der Kommission, während der Prüfling agiert. Sie folgt ihm auf den Gang, wartet mit ihm oder erwartet ihn abermals voller Ungewißheit herauskommend. Auch die Kommission ringt oft um Fassung. Stumme Blicke werden da gewechselt. Zuweilen lächelt man sich zu. Die Mitglieder erläutern ihre grundsätzlichen Positionen und Erfahrungen. Mehrfach wird angemerkt, daß es zuwenig Männer gäbe, und unter diesen zu wenige Talente seien. Burschen klammerten sich gern fest. „Ein Stuhl, sitzen und am besten noch ein heutiger Text.“ Weil die männlichen Bewerber so knapp sind, erhält einer schon mal einen kostenlosen Workshop angeboten. 

Der Raum wird nicht ins Spiel einbezogen. Ein Prüfer erkennt darin das Ergebnis einer überwiegend kognitiven Beschäftigung in Freizeit und Unterricht. Dadurch fehle die Erfahrung der Lausch-, Lauer- und Reaktionsspiele, die für die vorangegangenen Generationen charakterbildend gewesen sei. Er kommt zu dem Fazit: „Wir suchen nach den Überlebenden des Schulsystems!“ 

Die Schauspieltrainer und Sprecherzieher gehen professionell mit der Situation um, reden begütigend zu und dosieren die Hoffnung entsprechend der Beharrlichkeit ihrer Gesprächspartner. Beim Vorspiel werden Impulse von außen gesetzt. Die Routine soll aufgebrochen und intuitives Können freigelegt werden. Eine Chinesin spricht in Berliner Mundart die Frau John aus Gerhart Hauptmanns „Die Ratten“. Ein anderes Mädchen fällt gleich ganz aus ihrer Rolle. Die theatralische Darstellung einer Abgewiesenen und Verbannten gerät ihr unversehens zum verzweifelten Hilferuf nach der eigenen Annahme an der Schauspielschule. Hier sei ihr Platz, wo sie ganz und gar hingehöre. Die Grenze zwischen privatem Empfinden und gespielter Handlung verwischt.

Als es einmal zu uninspiriert laut wird, hält sich Professorin Nora Somaini die Ohren zu und schaut beinahe etwas vorwurfsvoll. Sie gesteht den naheliegenden Eindruck: „Mir ist das unangenehm.“ Vor der Kamera erklärt sie, Schauspielen heiße es und nicht Schausein.

Gewissenhafte Aufnahmeprüfungen wie die in Hannover und eine nachfolgende fundierte Ausbildung stellen sicher, daß die insgesamt mittelmäßigen deutschen Filme durch die Präsenz von hervorragenden Schauspielern immer wieder gerettet werden. Die sechs Kommissionen werden schließlich zu zweien zusammengelegt. Zuletzt müssen sie sich gegenseitig eingestehen, niemanden gefunden zu haben. Es wird nun nachgedacht, ob man gar zu streng sei, ob sich bei diesem oder jenem verdeckte Fähigkeiten während des Studiums noch entwickeln ließen.

Die Entscheidungen fallen nicht ohne Selbstzweifel und gegenseitige Beeinflussung. Im Finale kommt es zu einem heftigen Ringen um die Plätze. Doch die Mischung aus Diskussion und Abstimmung bewirkt ein erstaunlich ausgewogenes Ergebnis. Zuletzt geht es eben weniger darum, wer schon etwas könne, sondern vielmehr, mit wem es sich zu arbeiten lohne. Versponnene heimische Naturtalente setzen sich letztlich mit knapper Not gegen fleißige Imitatoren durch.

Als einer in der Kommission zu schwärmen anhebt, daß es ihn gar nicht mehr losgelassen habe, was mit der deutschen Rolle passiere, wenn eine Chinesin sie vortrüge, erntet er heftige Widerworte. Somaini wird sehr deutlich. Ein hübsches chinesisches Gesicht gefalle ihr zwar auch. Aber Asia-Bonus hin oder her: „Warum sucht sie so etwas aus, was nichts mit ihr zu tun hat?“ Talent siegt letztlich über Geschicklichkeit. Es kommt zu einer Auswahl, mit der alle arbeiten wollen.

Der Film beobachtet so schonungslos wie die Prüfer. Dabei kommen schwer zu bezähmende Eitelkeit und Unsicherheiten zum Vorschein. Eine Prüferin spielt das Prüfen, sie kokettiert mit unsicheren Urteilen, die sie rasch verwirft, wenn ein älterer Kollege begründete Gegenvorstellungen geltend macht. Das Ergebnis wirkt überzeugend wie der Dokumentarfilm selbst, in dem Schauspieler und jene, die es werden möchten, keine anderen Rollen spielen als sich selbst, auch wenn sie probeweise schauspielern.