© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/16 / 20. Mai 2016

Pankraz,
D. Deckers und der Citoyen als Bourgeois

Eine merkwürdige Renaissance erfährt zur Zeit der Begriff der „Bürgerlichkeit“. Neuerdings legen alle, die sich politisch vernehmbar machen, den größten Wert darauf, als „bürgerlich“, ja „gutbürgerlich“ wahrgenommen zu werden. Vor allem für die linken Kräfte des politischen Spektrums, die sich früher als „Vertreter der Arbeiterklasse“ deklarierten oder als Angehörige einer „freischwebenden, kritischen linken Intelligenz“, gilt das.

Noch nach der letzten Bundestagswahl 2013, als der Koalitionspartner der CDU/CSU, die FDP, aus dem Parlament flog, war das ganz anders. Damals waren die Zeitungen, gerade die taz, das Neue Deutschland oder die Frankfurter Rundschau, voll von Artikeln, die von einer vernichtenden Niederlage des „bürgerlichen Lagers“ sprachen, und der Begriff der „Bürgerlichkeit“ verlor jeglichen Glanz; der „Bürger“ kam nur noch im Einwohnermeldeamt vor oder als „Wutbürger“, der sich ohnmächtig gegen den Geist der Zeit auflehnt und sich damit lächerlich macht. 

Heute spricht niemand mehr von „Arbeiterklasse“, und die „kritische linke Intelligenz“ hat – zumindest in ihrer Rhetorik – jederlei anti-bürgerliche Attitüde abgelegt. Stattdessen zäumt man seine verbalen Aggressionen, etwa gegen die AfD, gegen die bösen Populisten oder gegen die superreichen VW-Manager, welche nicht auf ihre Boni verzichten wollen, als „Verteidigung der alten bürgerlichen Werte“ auf, stellt sich selbst als den „wahren Bürger“ hin, der lediglich für das eintrete, was sich für jede gute Gemeinschaft gehört und was an sich gar nicht extra gerechtfertigt werden müsse.

Die „Wutbürger“ ihrerseits, AfD-Wähler, Populisten oder Islamskeptiker, die für die traditionelle Leitkultur unter der Triade „Familie – Gott – Vaterland“ eintreten und sie nicht gegen die Triade „Gender–Null–Multikulti“ eintauschen möchten, verstehen sich natürlich ebenfalls als gutbürgerlich, so daß im tagtäglichen Meinungskrieg eine paradoxe Situation entsteht, die Daniel Deckers in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als einen Kampf der Neubürger gegen die Altbürger oder, je nachdem, der Altbürger gegen die Neubürger bezeichnet hat.


Paradox nennt Pankraz die Lage, weil, vom sozialen Standpunkt aus  gesehen, ein spezifisches Bürgertum in einem auch nur halbwegs eingrenzbaren Sinn in der modernen Gesellschaft nicht mehr auszumachen ist. Es gibt Angestellte mit mehr oder weniger Geld auf dem Konto, daneben eine im Vergleich dazu kleine Anzahl von Leuten, die selbstständig tätig sind, etwas auf eigene Rechnung herstellen und/oder anbieten: Gebrauchsartikel, Dienstleistungen, Beratung, Werbesprüche. Und es gibt die Arbeitslosen.

Weder die Angestellten noch die Selbständigen, noch die Arbeitslosen bilden ein einheitliches soziales Milieu, geschweige denn ein politisches Lager. Zwar mag hier und da noch  traditionelles Milieubewußtsein vorkommen und auch, daß sich damit gewisse politische Optionen verbinden. Doch das sind absterbende Etats. Was politische Präferenzen betrifft, kann man nicht einmal mehr zwischen „Superverdienern“ und „Normalverdienern“ zuverlässig unterscheiden, dergestalt also, daß die Besserverdienenden der einen Seite zuneigen und die Normalverdiener der anderen.

Wieso dann plötzlich der von allen Seiten erhobene Anspruch auf „echte, solide Bürgerlichkeit“? Gewiß, zum evaluierten politischen Stil gehört das Versprechen, sich nicht nur um das Wohlergehen bestimmter Gruppen, sondern auch und vor allem um „das Ganze“ zu kümmern, aber wieso soll dieses  Ganze nicht mehr eine „breite klassenlose sozialistische Gesellschaft“ oder eine „ wahrhaft stammesverbundene Volksgemeinschaft“ sein, sondern nur noch ein schlicht-solider Bürgerstaat?

Nun, die humanen Präferenzen haben sich offenbar sowohl für Jung wie für Alt im Zeichen der Globalisierung und Vermassung total geändert. Man will, gerade als nachdenklicher Wähler, kein (mutiges oder auch freches) Ausgreifen in neue Räume oder Zeiten mehr, sondern viel eher gediegenes Beisichsein, bedachtsame Abgrenzung, Sicherheit, Solidität, einigermaßen Geborgenheit. Der Begriff der Bürgerlichkeit kommt da wie gerufen. Er bedeutet ja am Ursprung Leben hinter Mauern, also auf Burgen wie im Mittelalter oder in Städten, wie sie bald darauf überall entstanden, Bourgeois und Citoyen.


Zur Hochblüte des europäischen Bürgertums im 19. Jahrhundert gab es in vielen intellektuellen Kreisen einen interessanten Dauerstreit darüber, was der Bürger nun eigentlich sei oder sein sollte, Burgbewohner (Bourgeois) oder Stadtbewohner (Citoyen). Die Mehrheit war damals eindeutig für den Citoyen und gegen den Bourgeois. Dieser galt am Ende als abschreckendes Gegenbild zum Citoyen, trotz gutem Schulabschluß kulturell uninteressiert, dummschlau, einzig auf Geldgewinn bedacht. 

Später änderte sich das allmählich. Thomas Mann etwa lobte zwar nicht expressis verbis den Bourgeois, hielt aber nicht das geringste vom vorlauten, in der Regel „revolutionär“ daherkommenden Citoyen. Im wohlhabenden, gebildeten „Bürger“ indes sah er fast die Voraussetzung für die Freiheit und das Gedeihen von Kultur (im Gegensatz zur „Zivilisation“, für die auch bloße Staatsorganisation genüge). Die „machtgeschützte Innerlichkeit“, die das kulturträchtige deutsche Bürgertum um 1900 genoß, hielt Thomas Mann für einen historischen Glücksfall.

Hört man den aktuellen Diskussionen zu, könnte man glauben, daß inzwischen sämtliche kulturrevolutionären Citoyens zu bedächtigen Bourgeois-Gestalten à la Thomas Mann geworden sind. Es handelt sich da vorläufig wohl tatsächlich um reine Rhetorik. Man sieht seine Felle davonschwimmen und greift nach der Bürgerlichkeit wie nach einem Rettungsring. Man flötet nach außen wie ein Dompfaff und grummelt im Inneren vor sich hin wie ein mißgelaunter Teddybär, der zu früh aus dem Winterschlaf erwacht. Aber wer kann das schon durchhalten.