© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/16 / 20. Mai 2016

Aus Freunden wurden Feinde
Teil 3 der Reihe „Erdogans Türkei“: Mit harten Bandagen gegen die Gülen-Bewegung
Marc Zoellner

Es war der Morgen des 18. April, als Recep Tayyip Erdogan zum entscheidenden Schlag ausholte: Kurz nach neun Uhr, nach der Eröffnung der ersten Filialen, stürmten mit Haftbefehlen und Schnellfeuerpistolen ausgestattete Hundertschaften der Polizei plötzlich Banken und Privatwohnungen in neun Provinzen des Landes, arretierten über 100 von der Gerichtsbarkeit gesuchte Personen. Schon am übernächsten Tag wurden die ersten 44 von ihnen der Justiz übergeben. Die Anklagepunkte der Staatsanwaltschaft hatten es dabei in sich: Die personelle Unterstützung einer terroristischen Organisation in Dutzenden Fällen wurde den Beschuldigten vorgeworfen, ebenso wie die Finanzierung dieser mit umgerechnet rund 15 Millionen Euro über die vergangenen Jahre.

Banker und Redakteure vor die Tür gesetzt 

Massenverhaftungen in der Türkei sind selbst in diesen Dimensionen zwar nichts Ungewöhnliches. Bereits in der Vergangenheit kam es immer wieder zu konzertierten Operationen von Polizei und Sicherheitskräften beispielsweise gegen türkische Anhänger des Islamischen Staats oder auch Sympathisanten der separatistischen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK).

 Daß von der letzten Razzia allerdings größtenteils Banker und Finanzmakler betroffen waren, überraschte die Öffentlichkeit und ließ den Fokus der Berichterstattung erneut auf das Phänomen der „Gülen-Bewegung“ wandern; jener islamisch-spirituellen Gruppierung, welche  Erdogan einst mit zu dessen politischen Erfolgen verhalf, vor wenigen Jahren allerdings in Ungnade fiel und seitdem als schärfster Widersacher der AKP im konservativ-religiösen Lager agiert.

Tatsächlich galten Erdogan und Fethullah Gülen, der Begründer der  Bewegung, lange Zeit als treue Weggefährten. So auch im Fall der Asya Bank, die im April Ziel der Erstürmung der Sicherheitskräfte war. Im Jahr 1996 zählte Erdogan, damals als Bürgermeister der Millionenmetropole am Bosporus fungierend, zu den Ehrengästen der Einweihung der ersten Filiale Asyas in Istanbul. Etwa zur selben Zeit, als Erdogan aufgrund seines Zitats aus einem islamistischen Gedicht zu Gefängnishaft verurteilt wurde (JF 15/16), mußte auch Gülen sich der Ermittlung durch türkische Behörden durch Flucht ins Ausland entziehen.

„Ihr müßt in die Arterien des politischen Systems eindringen, ohne bemerkt zu werden“, hatte der charismatische Prediger Ende der 1990er seine Anhänger aufgefordert. „Dort müßt ihr warten, bis die Zeit gekommen ist, zu welcher ihr sämtliche Staatsgewalt in euren Händen haltet.“

Kurz vor der Ausstrahlung dieser Rede verschwand Gülen, angeblich aus medizinischen Gründen, aus der Türkei. Doch aus dem Exil im US-Bundesstaat Pennsylvania sollte der mittlerweile 75jährige fortan mitwirken, seinen Leidensgenossen in dessen politischer Karriere zu unterstützen. 

Gülen konnte dabei auf sein noch heute existierendes Netzwerk aus unzähligen religiös geprägten Schulen zurückgreifen, welches sich über die Türkei und die Turkstaaten der ehemaligen Sowjetunion und selbst nach Europa und Übersee erstreckt. Seine Tageszeitung Zaman, mit rund 900.000 verkauften Exemplaren die auflagenstärkste Publikation der Türkei, galt bis zum Zerwürfnis mit  Erdogan als besonders AKP-treu. 

Selbst im Vorfeld der Präsidentschaftswahl von 2014 verkündete Gülen noch stolz: „Ich habe meinen Anhängern gesagt, sie sollen für Erdogan stimmen, und nicht für Ekmeleddin.“ Eine wohlwollende Geste, die Erdogan noch fröhlich lachend und mit ausgestrecktem Daumen kommentierte – denn immerhin zählen Gülens Anhänger allein in der Türkei nach Millionen.

Es war Erdogan höchstselbst, welcher mit mehreren Gesetzesänderungen 2006 den Freispruch Gülens in allen gegen diesen erhobenen Anklagepunkten erwirkte. Das Wohlwollen Gülens hatte sich Erdogan allerdings schon vorab mit der Vergabe strategisch wichtiger Funktionen an Anhänger der Heilsbewegung gesichert. Allein nach der Abgeordnetenwahl von 2002, als die im Vorjahr frischgegründete AKP 363 der 550 Sitze des Nationalparlaments zu erringen vermochte, sei „fast ein Fünftel der AKP-Mitglieder im Parlament Mitglied der Gülen-Bewegung“, berichtete der Spiegel in einem 2012 erschienenen Rückblick, „einschließlich des Justiz- und Kulturministers“.

Gülens Machtprobe brach in sich zusammen

Von der tiefgreifenden Verzahnung zwischen der AKP und Gülens islamischer Missionsanstalt, welcher Kritiker aufgrund ihrer Intransparenz sowie der rigiden Ausbildungs- und Abgrenzungsmethoden gegenüber der Öffentlichkeit gern „einen der Scientology nicht unähnlichen Sektenstatus“ (Spiegel) vorwerfen, profitierten schließlich beide:  Erdogan mit seinem rasanten Aufstieg im politischen Geschäft der Türkei. Gülen durch die Verfolgung kritischer Journalisten durch die türkische Justiz. Autoren wie Hanefi Avci, der ehemalige Polizeipräsident der Provinz Edirne, wurden aufgrund ihrer investigativen Recherchen gegen die Gülen-Bewegung mit Prozessen überzogen. 

Avci selbst, der in seiner Autobiographie berichtet, Gülens Anhänger hätten bereits einen Großteil des türkischen Polizeiapparats unter ihrer Kontrolle, wurde im Sommer 2013 unter fadenscheiniger Begründung zu 15 Jahren Haft verurteilt.

Wie schnell sich das Blatt wenden sollte, durfte Avci nur ein knappes Jahr später erfahren. Überraschend wurde dem Autor, der vormals behauptete, die Gülen-Bewegung versuche sich an der Gründung eines „Staates im Staat“ sowie der Unterwanderung der türkischen Behörden, Amnestie für seine Vergehen gewährt, er selbst im Juni 2014 aus der Haft entlassen. Die Gülen-Bewegung war mittlerweile in Ungnade gefallen. 

Zu lautstark hatte Fethullah Gülen das brutale Vorgehen der türkischen Staatsmacht bei der Niederschlagung der Gezi-Proteste 2013 angeprangert. Daß Recep Erdogan im Dezember 2013 überdies sein Kabinett umstrukturieren mußteb und ganze zehn Ministerposten aufgrund von schweren Korruptionsvorwürfen, die offenbar von Anhängern Gülens lanciert worden waren, neu zu besetzen hatte, ließ die Gräben zwischen der AKP und der Heilsbewegung vollends aufbrechen.

Einen „Staat im Staate“ etablieren zu wollen, warf Erdogan der Gülen-Bewegung fortan vor. Wurden einstmals noch deren Kritiker vom türkischen Staat verfolgt, traf die Rache für den vermeintlichen Dolchstoß nun die Sympathisanten Fethullah Gülens selbst: Seit Anfang 2014 wurden rund 2.400 seiner Anhänger inhaftiert. Rund 600 sitzen derzeit noch immer in Haft. Die Zaman steht mittlerweile unter staatlicher Kontrolle und auch die Asya Bank, das finanzielle Rückgrat Gülens in der Türkei, wurde verstaatlicht. Lediglich das Auslieferungsgesuch Ankaras an Washington, um dem Prediger Gülen in der Türkei den Prozeß zu machen,  ist noch immer in der Schwebe.





Erdogans Türkei 

Über 13 Jahre führt Recep T. Erdogan die Geschicke der Türkei. Für die einen ist der 62jährige eine Lichtgestalt. Für die anderen ein machtversessener Politiker, der die Türkei islamisieren will und die Meinungsfreiheit einschränkt. In einer neunteiligen Serie möchte die JF alle Facetten seiner Politik behandeln. Teil eins beschäftigte sich mit dem Aufstieg Erdogans. Teil vier (JF 24/16) wird dessen Wirtschaftspolitik beleuchten.