© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/16 / 20. Mai 2016

Bassam Tibi warnte schon früh vor den Folgen einer multikulturellen Gesellschaft
Der Mahner
Christian Vollradt

Ein Hörsaal der Universität Göttingen: Gejohle, Trillerpfeifen, klapperndes Gestühl. Mit Lärm wollen linke Studentengruppen eine Podiumsdiskussion über Zuwanderungspolitik verhindern. Kommilitonen schauen genervt, Politiker pikiert drein – nur einem platzt der Kragen. Ein graumelierter Professor ereifert sich über die Protestierer:  „Linker Faschismus“ sei das. Das sitzt. Denn dem, der so schimpft, müßten sich Krachmacher eigentlich nahe fühlen; einem Linken mit Migrationshintergrund. Sein Name: Bassam Tibi. 

Die oben beschriebene Szene hat sich vor eineinhalb Jahrzehnten zugetragen. Tibi ist mittlerweile Emeritus, sein graumelierter Kopf inzwischen vollends weiß. Doch ereifern kann sich der 72jährige nach wie vor, wenn auch eher schriftlich, etwa in der Schweizer Weltwoche oder aktuell in einem Beitrag für Alice Schwarzers dieser Tage erscheinendes Buch „Der Schock. Die Silvesternacht von Köln“. Tibis Zorn richtet sich heute vor allem gegen die politisch Verantwortlichen, namentlich die Kanzlerin. Und das, obwohl deren CDU ihn einst als ersten Muslim überhaupt in ihre Wertekommission berufen hatte. 

Durch die „Masseneinwanderung arabischer und nordafrikanischer Muslime“, so Tibi in der Weltwoche unter dem Titel „Eu-ropa nach Merkel“, seien „die Stabilität und die Identität Europas“ gefährdet. Er werde „wütend, wenn Gesinnungsethiker“ angesichts dessen die Sorgen vor der „demographischen Lawine“ und Parallelgesellschaften „mit dem Vorwurf der Rechtsradikalität abtun“. Tibi sieht darin – wie im Gejohle der Hörsaal-Störer – eine Form der Tyrannei, wenn Menschen hierzulande nicht mehr wagen, offen ihre Meinung zu sagen. „In Deutschland beherrschen linke und grüne Meinungsmacher die Medien und bestimmen das vorherrschende Narrativ.“ Sie trügen damit zu einer „Kultur von Angst“ bei, die für Tibi zutiefst antidemokratisch ist. 

Harte Worte. Von einem, der kennt, wovon er spricht. Tibi wurde 1944 als Sohn einer Familie der sunnitischen Oberschicht in Damaskus geboren. Nach dem Abitur in seiner Geburtsstadt ging der damals noch bekennende Marxist 1962 zum Studium nach Frankfurt am Main, belegte dort Sozialwissenschaften, Philosophie und Geschichte bei Adorno, Habermas, Horkheimer und Fetscher. Mit erst 28 Jahren wurde er 1973 Professor in Göttingen, leitet dort die Abteilung für internationale Beziehungen. 

Tibi gilt als Schöpfer zweier prägender Begriffe: dem des aufgeklärten „Euro-Islam“ und dem der „Leitkultur“. Den ersten konnte er bei den Islamfunktionären nicht durchsetzen, den zweiten nicht bei den deutschen Politikern. Tibi kränkte, als Mahner nicht gehört worden zu sein. Denn wie sehr gilt im gesellschaftlichen Großen, was er angesichts der Störer im Hörsaal vor 15 Jahren feststellte: „Ohne eine verbindliche Leitkultur kein friedliches Miteinander.“