© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/16 / 13. Mai 2016

Der ewige Traum vom „neuen Menschen“
Vor fünfzig Jahren leitete Maos Kulturrevolution in China den Bankrott des Sozialismus ein / Teil 1
Peter Kuntze

In dem 2014 in neun Sprachen erschienenen Buch „China regieren“ mit Reden und Grußbotschaften des seit November 2012 amtierenden Staats- und Parteichefs Xi Jinping wird das wohl finsterste Kapitel in der Geschichte der Volksrepublik nur mit einer dürren Fußnote erwähnt: „Im Mai 1966 wurde von Mao Tse-tung fälschlicherweise die ‘Große Proletarische Kulturrevolution’ initiiert, die bis Oktober 1976 andauerte.“ Sie habe Partei, Staat und Volk große Schäden zugefügt. Diese Aussage kommt einem Euphemismus gleich, denn das Ende der Kulturrevolution wenige Tage nach Maos Tod markierte nicht nur den entscheidenden Wendepunkt in Chinas jüngster Vergangenheit, sondern bedeutete auf internationaler Ebene zugleich die vorweggenommene Bankrotterklärung des Sozialismus. 

Angesichts des von Deng Xiaoping damals sofort eingeleiteten Politikwechsels sah der französische Philosoph Michel Foucault voraus, daß die marxistische Utopie auf Jahrzehnte keine Rolle spielen würde. Es gebe jetzt keine Orientierung mehr, schrieb er 1978: „Es existiert keine einzige revolutionäre Bewegung, erst recht kein einziges ‘sozialistisches Land’, auf das wir uns berufen könnten, um zu sagen: So muß es gemacht werden! Wir sind zurückgeworfen auf das Jahr 1830, das heißt: Wir müssen neu beginnen!“ 

Mit seiner Enttäuschung stand Foucault nicht allein. Im Westen hatten viele linke Intellektuelle fasziniert den Versuch verfolgt, einen „neuen Menschen mit sozialistischem Bewußtsein“ zu schaffen – einen Menschen, der zugleich „rot“ und „Experte“ sein und uneigennützig dem Volk dienen sollte. Mao zufolge hatte sich in China auf allen Ebenen wie in der Sowjetunion eine neue Ausbeuterklasse gebildet. Als „Machthaber auf dem kapitalistischen Weg“ standen Funktionäre, Verwaltungsfachleute, Techniker und besonders Intellektuelle im Zentrum der Umerziehungskampagne. Ziel war es, die Teilung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit aufzuheben und die Kluft zwischen Stadt und Land einzuebnen.

Schon einmal hatte Mao ein ähnliches Vorhaben gewagt: Im Wettstreit mit den sowjetischen Rivalen sollte der „Große Sprung nach vorn“ (1958–1961) das Ziel des Kommunismus durch die Gründung von Volkskommunen näherbringen. Doch das Experiment endete in einer gigantischen Hungerkatastrophe mit Millionen Opfern. Mao mußte das Amt des Staatspräsidenten an Liu Shaoqi abgeben, der den Klassenkampf ablehnte und für einen harmonischen Aufbau des Landes plädierte. Statt auf Mobilisierung der Massen setzte Liu in konfuzianischem Geist auf Erziehung und Bildung des einzelnen. Sein Buch „Über die Selbstvervollkommnung“ erreichte bis 1962 eine Auflage von mehr als zwanzig Millionen Exemplaren.

Unvorstellbare Grausamkeit gegen die „Klassenfeinde“

Mao, nach wie vor KP-Chef, ging 1965 zum Gegenangriff über. Mit Hilfe seiner Anhänger, darunter Verteidigungsminister Lin Biao, gelang es ihm, mehrere hohe Funktionäre zu entmachten. Als Lehre aus dem Desaster des „Großen Sprungs“ blieb die Wirtschaft unangetastet. Im Zentrum der Kritik stand vielmehr der geistige Überbau der Gesellschaft, denn dort, so Mao, habe die „neue Klasse“ Schulen, Universitäten, Medien, Kunst, Literatur, Theater oder Film unter ihre Kontrolle gebracht.

Auf einer Tagung des Politbüros wurde im Mai 1966 eine „Gruppe für die Kulturrevolution“ unter Leitung Jiang Qings, der Ehefrau Maos, gegründet. In der „Mitteilung vom 16. Mai“ hieß es, mit der intellektuellen Opposition, die der proletarischen Klasse die Macht entrissen habe, müsse ein „Kampf auf Leben und Tod“ geführt werden. Dieser Appell richtete sich in erster Linie an die Jugend, denn von ihr erhoffte sich Mao die revolutionäre Wende. Das Echo kam prompt: Am 25. Mai erschien in der Universität Peking die erste Wandzeitung, in der der Rektor beschuldigt wurde, die Kulturrevolution zu sabotieren. 

In den nächsten Wochen bildeten sich überall im Land Gruppen von Schülern und Studenten, die als „Rote Garden“ Jagd auf angebliche Konterrevolutionäre machten. Mao traf erstmals am 18. August auf dem Platz des Himmlischen Friedens mit den Rotgardisten zusammen und band sich unter dem Jubel der begeisterten Menge eine rote Armbinde um, die ihm eine Gardistin überreicht hatte. Der Kult um seine Person nahm bald groteske Züge an – befeuert nicht zuletzt durch das kleine rote Buch mit Mao-Zitaten, das Lin Biao millionenfach verbreiten ließ.

Maos Parole „Rebellion ist berechtigt!“ fiel auf fruchtbaren Boden: Schulen und Universitäten wurden geschlossen, die Roten Garden durften kostenlos mit der Bahn durchs Land reisen und in jedem Winkel „Klassenfeinde“ aufspüren. Es kam zu unvorstellbaren Grausamkeiten. Selbst jene Rotgardistin, die Mao die Armbinde überreichte, war vierzehn Tage zuvor an der Ermordung ihrer Vize-Rektorin an der berühmtesten Pekinger Mädchenschule beteiligt gewesen. Die Rotgardisten hatten ihre Lehrerin gezwungen, stundenlang auf dem Boden zu knien, sie mit Stöcken geprügelt und mit kochendem Wasser übergossen. Ihr Leichnam wurde auf eine Müllkarre geworfen. Derartige Szenen, als „Kampf- und Kritiksitzungen“ deklariert, wiederholten sich im ganzen Land. 

Doch auch diese Revolution fraß ihre Kinder: Die Bewegung der Roten Garden spaltete sich in rivalisierende Gruppen, die sich bald mit Waffengewalt bekämpften. Als Betriebe lahmgelegt wurden und auf dem Land die Aussaaten in Gefahr gerieten, griff die Armee ein und gründete Revolutionskomitees, die für Ordnung sorgen sollten. Die Zeit der Roten Garden war vorbei. Ende 1968 rief Mao die intellektuelle Jugend auf, „hinunter ins Dorf und hinauf auf die Berge“ zu gehen. Zehn Millionen Schüler und Studenten wurden aufs Land geschickt, um von den Bauern zu lernen. 

Auf dem Parteitag im April 1969 wurde Lin Biao anstelle von Liu Shaoqi zum Nachfolger Maos ernannt. Doch als Mao die von Militärs dominierten Revolutionskomitees zugunsten neuer Parteiorganisationen auflösen ließ, kam es zum Zerwürfnis. 1971, so hieß es später, habe Lin Biao einen Anschlag auf Mao geplant und sei, als das Attentat fehlschlug, an Bord einer Militärmaschine geflohen. Wegen Treibstoffmangels sei das Flugzeug über der Mongolei abgestürzt. Fortan hielt eine nach ihrem Sturz als „Vierer-Bande“ apostrophierte Gruppe um Maos Frau die Fäden der Macht in der Hand.

Jiang Qing, eine ehemalige Filmschauspielerin, entwickelte acht revolutionäre Peking-Opern als Musterbeispiele proletarischer Bühnenkunst und ließ alle alten Musikstücke verbieten. Dies war ganz im Sinne des von Mao propagierten Kampfes gegen die „vier Alten“ – die alte Kultur, die alten Ideen sowie die alten Sitten und Gebräuche. Mit revolutionärem Furor plünderten und verheerten die Roten Garden tibetische Klöster und Tempel, zerstörten antike Artefakte, verwüsteten den Geburtsort des Konfuzius, verbrannten Bücher und demolierten Möbel und Porzellan aus klassischen Zeiten. 

Mao Tse-tung, seit drei Jahren an Parkinson erkrankt, starb am 9. September 1976. Die Ultralinken um Jiang Qing planten die Machtübernahme. Doch ihre Gegner, darunter Deng Xiaoping und führende Militärs, ließen die „Vierer-Bande“ am 6. Oktober verhaften und später vor Gericht stellen. Für die nächsten zwei Jahrzehnte bestimmte Deng das Geschehen. Durch seine Reform- und Öffnungspolitik entwickelte sich China zur zweitstärksten Wirtschaftsmacht der Welt.

Die Kulturrevolution, die einen „neuen Menschen“ hervorbringen sollte, war auf ganzer Linie gescheitert. Bis zu zwanzig Millionen Menschen sollen ihr zum Opfer gefallen sein. Die Verketzerung von Wissen und Bildung, von Expertentum und überlieferter Kultur warf die Volksrepublik um mindestens zehn Jahre zurück. Noch heute ist jene verheerende Epoche in China ein Tabuthema, denn nahezu jede Familie war direkt oder indirekt in die Wirren verstrickt – sei es auf der Täter-, sei es auf der Opferseite. Eine wichtige Rolle spielte auch, daß die Partei tief gespalten war und es vornehmlich Kinder der roten Elite waren, die gegen die eigene Vätergeneration rebellierten. 






Peter Kuntze, ehemaliger Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, ist Autor des Buches „Chinas konservative Revolution oder Die Neuordnung der Welt“ (Schnellroda 2014).