© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/16 / 13. Mai 2016

Stasi-Akten ins Bundesarchiv überführen?
Keine exklusive Schmuddelzone Ost
Thorsten Hinz

Die Stasi-Akten werden zugänglich bleiben, auch wenn die Unterlagenbehörde bis 2021 abgewickelt wird und im Bundesarchiv aufgeht. Die Reduzierung der Außenstellen auf nur noch eine in jedem östlichen Bundesland ist kein Hinderungsgrund. Beides hat pragmatische und sachliche Gründe.

Die Zahl der Antragsteller ist signifikant zurückgegangen. Wer nach Aufklärung suchte über seine politische Verfolgung und Bespitzelung in der DDR oder nach Beweisen für den Opferstatus und Entschädigungsansprüche, hat längst Einsicht genommen. Jetzt tritt das zeitgeschichtliche Interesse in den Vorder-, das lebensgeschichtliche in den Hintergrund. In fünf Jahren – drei Jahrzehnte nach ihrem Ende – wird die DDR gänzlich Historie geworden sein, die es verdient, historisiert zu werden. Historisierung heißt keineswegs, daß der Blick sich verklärt. Vielmehr weitet sich seine Perspektive. Es ist wie bei der Betrachtung eines Gemäldes: Man tritt ein paar Schritte zurück, um die ganze Bildkomposition zu erfassen und die Bedeutung der einzelnen Motive darin zu entschlüsseln. Die Eingliederung der Stasi-Sonderbehörde ins Bundesarchiv entspricht der Einordnung des Stasi-Segments in den Kontext der größeren Geschichte.

Das einzusehen, fällt manchen schwer. Denn noch immer besitzen die Stasi-Akten eine mythische Bedeutung, so wie die Stasi sowohl Realität als auch ein furchteinflößender Mythos war, der ein ganzes Land in eine unterschwellige Paranoia versetzte. Nach 1989 stellte sich heraus, daß die Realität der Überwachung, Bespitzelung, Zersetzung von Zielpersonen alle paranoiden Visionen übertroffen hatte. Dieser faktenreich untermauerte und gerichtsfeste Nachweis ist ein historisches Verdienst der Unterlagenbehörde.

Zum Mythos wurden die Akten auch, weil die Revolution 1989 in einer bestimmten Weise unvollendet blieb. Der Aufschrei der Erlösung, in den die Unterdrückten ausbrechen, wenn der Henker den Kopf des gestürzten Tyrannen emporhält, hat es in der DDR nicht gegeben. Die Revolution blieb friedlich, mußte friedlich bleiben, weil andernfalls sowjetische Panzer gerollt wären. Auch die Wiedervereinigung brachte keine wirkliche Erfüllung. „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“, lautet der zum Klassiker gewordene, bittere Satz der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley. Es blieben „die Akten“ als symbolischer Ersatz für die ausgebliebene Genugtuung und als Beweis, wenigstens moralisch recht behalten zu haben.

Doch mit der Zeit erschöpfen die moralisch-kompensatorischen Begründungen sich genauso wie die isolierte, auf die DDR fokussierte Betrachtungsweise. Das Ministerium für Staatssicherheit war eine furchtbare Organisation, Punktum! Es braucht aber keine dauerhafte Sonderbehörde, die diese Wahrheit verwaltet und daraus ihre Begründung ableitet. Das würde nur zu Tautologien führen und die Mythisierung der Stasi festschreiben.

Das MfS war eine furchtbare Organisation. Es braucht aber keine dauerhafte Sonderbehörde, die diese Wahrheit verwaltet und daraus ihre Begründung ableitet. Das würde nur zu Tautologien führen und die Mythisierung der Stasi festschreiben.

Das Argument, man benötige die Behörde, um ein Gegengewicht zur allgemeinen NS-Zentrierung zu schaffen und eine antitotalitäre Geschichtspolitik zu etablieren, überzeugt ebenfalls nicht. Das käme dem Versuch gleich, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben und hätte das vorhersehbare Ergebnis, den Teufel doppelt ins Recht zu setzen. Wenn die frühere thüringische Stasi-Landesbeauftragte und Bürgerrechtlerin Hildigund Neubert klagt, die Überführung der Behörde würde die Stasi „relativieren“, dann kann man nur erwidern: Das ist auch richtig so! Denn Relativierung bedeutet nicht, den Schrecken zu verleugnen, sondern ihn in seinen größeren Zusammenhängen zu betrachten.

Das gilt auch für die Stasi, deren Funktion sich wesentlich aus der über Deutschland verhängten Teilung ergab. Sie sicherte nicht nur die Herrschaft der SED ab, sie war überhaupt die Voraussetzung, um das ungeliebte Kunstgebilde namens DDR, eine Retortenschöpfung Stalins, als Staat zu organisieren und zu erhalten, und zwar in permanenter Abgrenzung zur größeren, erfolgreicheren Bundesrepublik, die sie sonst aufgesogen hätte. Deshalb ist es falsch, die Staatssicherheit als exklusive Angelegenheit einer politisch-moralischen Schmuddelzone Ost anzusehen. Nein, sie ist ein Teil der gesamtdeutschen Geschichte! Die Übernahme ihrer Akten durch das Bundesarchiv besiegelt diese einfache, schwerwiegende Tatsache.






Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, studierte in Leipzig Germanistik, war JF-Kulturredakteur und ist heute freier Autor. 2004 erhielt er den Gerhard-Löwen­thal-Preis für Journalisten. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über 25 Jahre Wiedervereinigung („Treulos gegen das Eigene“, JF 41/15).