© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/16 / 13. Mai 2016

„Diese Liebe soll heftig sein!“
Enthusiastische Betrachtung des Musiktheaters: Der Schweizer Kulturwissenschaftler Iso Camartin präsentiert einen Opernführer der anderen Art
Felix Dirsch

An Opernführern besteht kein Mangel. Die Bandbreite reicht von populären Darstellungen für ein an überschaubaren Informationen interessiertes Publikum bis zu wissenschaftlichen Publikationen. Eine mittlere Position nimmt die Schrift des Züricher Kulturwissenschaftlers Iso Camartin ein. Das Thema wird durchaus anspruchsvoll abgehandelt, jedoch nicht in Form eines wissenschaftlichen Traktats. Der Verfasser will vor allem Begeisterung für diese Musikgattung wecken. Unter den zahllosen bedeutsamen Stoffen der Operngeschichte wählt er den gewiß herausragenden: die Liebe, die oft in Verbindung mit dem Tod steht. Schon Donizetti wußte: „Ich will Liebe! Ohne sie sind alle Themen kalt – und diese Liebe soll heftig sein!“ Wer erinnert sich dabei nicht an legendäre Aufführungen von Puccinis „Tosca“ oder von „La Traviata“ oder Wagners „Tristan und Isolde“, um nur exemplarisch einige herauszugreifen?

Die Frage für den Opernbesucher lautet stets: Was bringt es mir, eine Aufführung zu besuchen? Sagt sie mir über das reale Leben etwas, das ich anderswo nicht erfahren kann? Und wie ist es mit der Liebe? Nun ist diese bekanntlich ein seltsames Spiel. Mozart schrieb an Constanze, die in Baden bei Wien weilte: „Du kannst nicht glauben wie mir die ganze Zeit her die Zeit lang um Dich war! – ich kann dir meine Empfindungen nicht erklären, es ist eine gewisse Leere – die mir halt wehe thut, – ein gewisses Sehnen, welches nie befriedigt wird, folglich nie aufhört – immer fortdauert, ja von Tag zu Tag wächst; (…) gehe ich ans Klavier und singe etwas aus der Oper, so muß ich gleich aufhören – es macht mir zuviel Empfindung – Basta.“ Keiner weiß, was Liebe ist und sie mit uns anstellt. Die großen Stücke aus dem Genre geben uns zumindest eine Vorahnung. 

Camartin schlägt einen ambitionierten Bogen von Monteverdi, dem Vater der neuzeitlichen Oper, bis zu Richard Strauss’ „Ariadne auf Naxos“. Fünfzig  Opern werden beleuchtet. Nicht nur die allgemein bekannten und beliebten werden kompetent vorgestellt und bewertet. Natürlich kommt um Mozarts berühmte Figuren keiner herum, der sich mit dem Thema beschäftigt. Gleiches gilt a fortiori für Wagners „Erlösungswahn durch Liebe“. Immerhin unterscheidet der Autor zwischen den angeblich nationalistischen, mythenbefangenen Stoffen einerseits und der Musik des genialen Außenseiters andererseits. Camartin geht der Frage nach, wovon die Liebe uns nach Meinung des Schopenhauer-Rezipienten erlösen soll.

Einen Schwerpunkt nimmt die Präsentation von Verdis Welt ein. Diese Akzentuierung ist der Biographie des Verfassers geschuldet, dessen erster Opernbesuch dem „Rigoletto“ gegolten hat. Fast hymnenhaft wird es, wenn er „Don Carlo“ beschreibt, der für ihn die Schönheit erst versprochener, dann versagter, später verzichteter Liebe darstellt. Es handle sich um eines der „aufgewühlt-dunkelsten Musikstücke“ aus der Feder Verdis, der gar als „Wunder der Musikgeschichte“ bezeichnet wird, insbesondere in seiner späteren Zeit. Weniger Fanfarenstöße hätten es wohl auch getan! Zu widersprechen ist dem Verfasser, wenn er die qualitative Dimension der deutschen Verdi-Forschung lobt, sind doch etliche italienische Standardwerke noch nicht übersetzt.

Der Text wird ergänzt durch eine Liste der besprochenen Werke, von empfohlenen Referenzaufnahmen auf CD und DVD und ausgewählter Literatur. Eine unverzichtbare Lektüre für Liebhaber und solche, die es werden wollen.

Iso Camartin: Opernliebe. Ein Buch für Enthusiasten. C. H. Beck, München 2015, gebunden, 384 Seiten, 22,95 Euro