© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/16 / 13. Mai 2016

Positive Veränderungen scheinen unmöglich
Irak: US-Hoffnungen auf Proporzsystem erfüllen sich nicht / Schiitische Opposition fordert „korruptes“ System heraus
Marc Zoellner

Solch einen Tag wie den 30. April hatte Bagdad seit dem Sturz Saddam Husseins nicht mehr erlebt: Tausende wütender Demonstranten drangen in die Grüne Zone ein. In jenes hochgesicherte, rund zehn Quadratkilometer umfassende Areal, in dem sich neben Botschaften auch wichtige Einrichtungen der irakischen Regierung befinden. In einem Meer von irakischen Nationalflaggen skandierten die Demonstranten Sprechchöre gegen die Regierung und forderten die Beseitigung des bei vielen Irakern verachteten Muhasasa-Systems.

Muhasasa bedeutet nichts weiter als „Aufschlüsselung“. Nach der Einnahme Bagdads infolge des Golfkriegs von 2003 durch US-Truppen erhoffte sich Washington, mit Hilfe eines ethnisch wie religiös ausgewogenen Proporzsystems eine Regierung der nationalen Einheit installieren zu können. Die wichtigsten Positionen sollten gleichberechtigt unter Kurden, Sunniten und Schiiten aufgeteilt werden. Ursprünglich als Stabilitätsfaktor gedacht, entwickelte sich das System jedoch der Meinung vieler Iraker zufolge zur institutionalisierten Maschinerie für Korruption.

Regierung al-Abadi handlungsunfähig

Die Erstürmung des Parlaments war dabei nur der vorläufige Höhepunkt. In Anlehnung an die Ereignisse des Arabischen Frühlings trafen sich bereits seit Sommer vergangenen Jahres Oppositionelle zu regelmäßigen freitäglichen Märschen auf dem Bagdader Tahrir-Platz. Bis Februar dieses Jahres wuchs die Teilnehmerzahl gar auf eine Million an. Organisiert werden sie mittlerweile von einem der einflußreichsten schiitischen Kleriker des Landes – dem 42jährigen Prediger Muqtada as-Sadr, dem Gründer der Mahdi-Milizen und Sohn des 1999 von den Baathisten ermordeten Großayatollahs Muhammad Sadiq as-Sadr.

„Heute bin ich unter euch, um zu erklären, daß die Regierung ihr Volk allein gelassen hat“, verkündete as-Sadr im Februar auf einer jener Großdemonstrationen. „Allein gelassen im Kampf gegen Tod, Angst, Hunger, Arbeitslosigkeit und gegen die Besatzer. Angesichts einer schwindenden Wirtschaft sowie der Sicherheitskrise.“

Doch Ministerpräsident Haider al-Abadi sieht sich machtlos, selbst kleinste Reformen durchzusetzen. Seit seiner Wahl im August 2014 muß er zunehmend auch im eigenen Lager, der „Rechtsstaat-Koalition“, einer Allianz von einem Dutzend moderat-islamistischer, schiitisch dominierter Parteien, um Unterstützung ringen. Deren Vorsitzender Nuri al-Maliki war zugleich ministerpräsidialer Vorgänger al-Abadis und wurde von letzerem aus der Regierungsverantwortung geschaßt. Seitdem gilt al-Maliki als schärfster Kontrahent al-Abadis. Nur wenige Stunden vor dem Parlamentssturm verlor al-Abadi gegen den Flügel al-Malikis seine dritte Kampfabstimmung um die Ernennung einer neuen Ministerliste, die nicht mehr proportional nach Ethnie und Konfession bestimmt, sondern von parteipolitisch unabhängigen Technokraten ersetzt werden sollte. 

In ihrer momentanen Handlungsunfähigkeit, warnen Analysten, bewege sich der Irak immer näher auf den Status eines failed state zu. „Jede Veränderung in der politischen Landschaft scheint unmöglich zu sein“, erklärte der irakische Journalist Walid al-Zubaidi die Gründe des lähmenden Patts. „Denn das würde ja bedeuten, daß die derzeitige Elite sämtliche ihrer Privilegien verlieren und sich ebenso dem Risiko juristischer Untersuchungen ausgesetzt sehen würde.“