© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/16 / 06. Mai 2016

Lauter Mythen
Vor 75 Jahren flog der NS-Politiker Rudolf Heß nach England, um Verhandlungen zu sondieren: Bis heute kreisen viele Mutmaßungen zu Hitlers Stellvertreter
Stefan Scheil

Im Sommer 2011 wurde in Deutschland wieder einmal Weltgeschichte geschrieben. Man öffnete das Grab eines Mannes, der vor fast siebzig Jahren zu lebenslanger Haft verurteilt worden und vor fünfundzwanzig Jahren in eben dieser Haft zu Tode gekommen war. Seine sterblichen Überreste wurden exhumiert und verbrannt, das Grab daraufhin eingeebnet – weil man seine weitere Existenz politisch untragbar fand. 

So etwas hatte die Welt bis dahin in der Tat noch nicht gesehen. Wohl kannte man spätere Grabschändungen bei Personen, die in Amt und Würden verstorben waren, und so manch Umstrittener hatte erst gar kein Grab gefunden. Aber ein derartiger Schlag gegen einen vor zwei Generationen besiegten und vor einer Generation aus der Haft heraus Beerdigten, begangen bei unveränderten politischen Machtverhältnissen, das stellte ein Novum dar. 

Die Rede ist von Rudolf Heß, dem einstigen zweiten Mann des Dritten Reichs. Die Bundesrepublik Deutschland demonstrierte an seinem Beispiel, daß man als reueloser Nationalsozialist auf ihrem Territorium nicht einmal mehr begraben sein kann. Sie demonstrierte unfreiwillig zugleich die eigene Furcht vor der Vergangenheit, die nicht vergehen will.

Diese extreme Symbolhandlung war natürlich den abenteuerlichen Lebensumständen von Heß geschuldet. Es hatte ihn schon zu Lebzeiten zur Legende werden lassen, im Mai 1941 höchstpersönlich im Alleingang auf die britischen Inseln geflogen zu sein. Im Gepäck hatte er die damals neuesten deutschen Wunschvorstellungen für einen Verhandlungsfrieden mit Großbritannien. Auch das hatte die Welt noch nicht gesehen, ein nominell stellvertretendes Staatsoberhaupt am Fallschirm auf seinem Weg als Parlamentär.

Es folgten die Festsetzung für die Dauer des Krieges, die Verurteilung im Nürnberger Prozeß zu lebenslanger Haft und dann schließlich jahrzehntelange Einzelhaft im Spandauer Gefängnis. Als alle anderen im Nürnberger Hauptprozeß zu Haftstrafen Verurteilten längst wieder auf freiem Fuß waren, zurückgezogen lebten oder wie Albert Speer gar erneut zur öffentlichen Person aufgestiegen waren, da zog Heß immer noch einsam seine Kreise in einem Gefängnishof, der für tausend Häftlinge ausgelegt war. 

Draußen dämmerte dann die Ära Gorbatschow herauf und für einen Moment konnte es so scheinen, als würde auch Heß noch einmal zu Lebzeiten Spandau verlassen können. Der Anachronismus dieser ewigen Haft rief den deutschen Bundespräsidenten auf den Plan. Im Entwurf seiner berühmten Rede zum 8. Mai 1985 fand sich eine Passage, in der Richard von Weizsäcker für Gnade plädierte. So überdrüssig, wie auch die Alliierten dieser Veranstaltung inzwischen waren, hätte dies Chancen haben können, doch blieb der Appell unausgesprochen.

Indizien weisen auf Hitlers Mitwissen am Flug hin

Schließlich setzte der umstrittene Tod im August 1987 der Sache gewissermaßen die Krone auf. Offiziell wurde von Selbstmord gesprochen, doch fanden sich zugleich mehrere Zeugen, die an Rudolf Heß einen Mord beobachtet haben wollten. Die Kontroverse darüber wird andauern, eine von den Angehörigen damals geforderte zweite Obduktion lieferte hierfür weitere Ansätze. 

Bei seinem Englandflug am 10. Mai 1941 ging für Heß bekanntlich alles schief, was schiefgehen konnte. Statt mit dem Fallschirm abspringen zu müssen, hatte er eigentlich gehofft, sein Flugzeug landen zu können, zu betanken und nach den Gesprächen bald wieder zurückfliegen zu können. Für dieses Vorhaben hatte er sich, dafür sprechen viele Indizien, auch die Billigung des deutschen Staatschefs und Diktators Adolf Hitler geben lassen.

Nun fand Heß bei seiner Ankunft in Schottland kein beleuchtetes Flugfeld vor, so daß zum Fallschirm keine Alternative blieb. Landung und möglicher Rückflug waren damit unmöglich, das Flugzeug durch Absturz zerstört. Er fand auch nicht den erhofften britischen Verhandlungspartner vor, sondern einen Agenten der polnischen Exilregierung, der ihn erst einmal verhörte. Ob zwischen diesem Sachverhalt und der verpatzten Landechance ein engerer Zusammenhang besteht, konnte bisher nicht abschließend geklärt werden. 

Immerhin ist so viel zweifelsfrei richtig: Wenn Großbritannien und Deutschland im Frühjahr 1941 „Frieden“ schließen würden, mußte jemand die politische Zeche zahlen, und da wäre Polen in vorderster Linie zur Kasse gebeten worden. Über einen militärischen Rückzug aus dem besetzten Westeuropa war mit Deutschland sicherlich zu verhandeln, über eine Wiederherstellung Polens wohl kaum, schon gar nicht in dem Sinn, wie sich das die polnische Führung vorstellte.

Es klingt für heutige Ohren immer noch sehr ungewöhnlich, daß der Heß-Flug ein begründetes politisches Unternehmen gewesen ist und daß er sich außerdem in eine ganze Reihe von Kontaktversuchen der deutschen Regierung mit den Kriegsgegnern einfügte. Seit dem Herbst 1939 war jedem militärischen deutschen Erfolg ein Gesprächsangebot an die Gegenseite gefolgt, teilweise öffentlich, vielfach auf diskreten Wegen. 

Im Sommer 1940 wurde das einmal sogar fast von Erfolg gekrönt. Man überzeugte den britischen Botschafter in Washington nach dem Sieg in Frankreich von den deutschen Friedensvorstellungen. Lord Lothian nannte sie im Monat Juli „überaus befriedigend“ und empfahl telefonisch in London ihre Annahme. Dort setzten sich allerdings die kriegsentschlossenen „diehards“ um Premier Winston Churchill durch und nicht Lothians früherer Chef und Ex-Premier David Lloyd George, der 1940 die Meinung vertrat, man führe gerade den „bei weitem dümmlichsten Krieg“ der englischen Geschichte. Es gäbe überhaupt keinen Grund, eine deutsche Vorrangstellung in Ostmitteleuropa zu bekämpfen, die nach Lage der Dinge eine natürliche Sache sei.

Davon konnte man in Berlin kaum etwas wissen. Nach außen hin blieb die britische Fassade gewahrt und geschlossen. Noch später äußerte Hitler die Ansicht, die britische Regierung werde augenblicklich gestürzt werden, wenn dort je bekannt werden würde, „was wir angeboten haben“. Diese scheinbare Informationslücke führte schließlich wohl zu dem verwegenen Plan, hinter dem Rücken der Regierung Churchill mit dem britischen Establishment persönlich ins Gespräch zu kommen. Entsprechende Sondierungen schufen den falschen Eindruck, so etwas sei tatsächlich möglich.

Manche verweisen immer noch gern auf die Sperrfrist von Teilen der in Großbritannien lagernden Akten im Fall Heß. Was so lange geheimgehalten wird, muß von großer Brisanz sein, so der Gedankengang. Letztlich fällt die Vorstellung jedoch schwer, daß dort noch wirklich bahnbrechende Informationen zu finden sein könnten. Die Geschichtswissenschaft hat hier bereits umfassende Aufklärungsarbeit geleistet. Wer es wissen wollte, konnte spätestens mit der Würzburger Habilitationsschrift von Rainer Schmidt Mitte der neunziger Jahre einen Eindruck von den rationalen Gründen für Heß’ Flugentscheidung bekommen. 

Heß wurde von britischer Seite in eine Falle gelockt

Obwohl Rainer Schmidt die Person Rudolf Heß sicherheitshalber mit allerhand negativen Eigenschaften belegte, kam er zu der Schlußfolgerung, der Stellvertreter Hitlers hätte nicht den vielbeschworenen „Botengang eines Toren“ angetreten, sondern sei von britischer Seite in eine Falle gelockt worden.

Nun will es in der Bundesrepublik eben nur eine überschaubare Minderheit so historisch genau wissen. Das Fernsehen beispielsweise präsentiert, wenn es sich zu solchen Themen äußert, dann doch lieber immer wieder den gewohnten Narren Rudolf Heß, egal wer im Abspann als wissenschaftlicher Berater eingeblendet wird. Das Publikum akzeptiert dies, es kennt in großer Mehrheit auch gar nichts anderes. Überdies reagiert der bundesdeutsche Kenner eines fest etablierten Geschichtsbildes gern unwirsch, wenn er auf irritierende historische Feinheiten aufmerksam gemacht wird. Er verwendet dann regelmäßig Begriffe wie „Relativierung“ oder „Verharmlosung“ und fühlt sich offenkundig bedroht. 

Eine nationalsozialistische Regierung, die versucht hat, mit dem Rest der Welt Kompromisse zu schließen, sie paßt nicht so recht in das aktuell gepflegte Bild einer schranken- und hemmungslos verbrecherisch-aggressiven Welteroberungsideologie, von der sich das heutige Deutschland als helles Vorbild absetzen kann. Ebensowenig Platz ist in diesem Geschichtsbild für alliierte Siegerstaaten, die den Zweiten Weltkrieg kompromißlos führten und ihn stetig ausdehnten, in der – zutreffenden – Annahme, sie würden ihn schließlich ebenso wie den Ersten auch gewinnen. Man tat nach 1945 schon im Nürnberger Prozeß alles, um die Dinge in diesem Sinn zu plazieren. Dazu gehörte es, Rudolf Heß lebenslänglich in die Zelle zu schicken. Von diesem Standpunkt aus lassen sich die großen Schwierigkeiten nachvollziehen, die Staat und Gesellschaft mit dieser deutschen Vergangenheit haben.

Natürlich sind entsprechende Sorgen auch nicht gänzlich unbegründet. Zum „Fall Heß“ gehören ebenfalls die neo-nationalsozialistischen Bemühungen, ihn über Demonstrationen an seiner Grabstätte seinerseits zu einer Art unschuldiger Nationalfigur und Vorbild zu stilisieren. Das konnte im Extremfall zur Legitimation des NS-Regimes insgesamt genutzt werden. Eine selbstsichere Republik hätte es trotzdem ausgehalten. Keine ernstzunehmende politische Kraft wünscht sich schließlich den Nationalsozialismus zurück, ob er nun 1941 zu verhandeln versuchte oder nicht. 

Der Eifer, mit dem am gegenwärtigen zementierten Geschichtsbild in der Bundesrepublik Zustand festgehalten wird, mündet absehbarerweise immer wieder in Hysterie. In diesem Zustand wird dann selbst historische Aufklärung mit Apologie verwechselt und die Zerstörung von Grabstätten als demokratischer Widerstandsakt empfunden. In dieser Form ist das weltweit einzigartig, fürwahr.