© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/16 / 06. Mai 2016

Wie der Wettbewerb das Wissen verzerrt
Wirtschaftsliteratur: Der britische Politologe Colin Crouch kommt im dritten Teil seiner Neoliberalismus-Schelte über den nationalen Rahmen nicht hinaus
Felix Dirsch

Colin Crouch gilt als einer der bedeutendsten Stichwortgeber der Gegenwart (JF 43/15). Seine schmale Schrift „Postdemokratie“ brachte 2005 eine wesentliche Signatur des Zeitgeistes auf einen mittlerweile beinahe inflationär gebrauchten Begriff. Postdemokratie bezeichnet ein bestimmtes Stadium unseres politischen Systems, in dem die Institutionen der Volksherrschaft äußerlich intakt sind, faktisch unterliegen sie jedoch einer unübersehbaren Auszehrung, weil sich tendenziell immer weniger Menschen aktiv beteiligen. Manche behaupten, im Westen habe sich die Demokratie totgesiegt.

Den Hauptgrund für eine solche Diagnose sieht Crouch in der Dominanz neoliberaler Eliten. Diese hätten die Möglichkeit, die öffentliche Meinung in ihrem Sinn zu beeinflussen. Prominente Beispiele seien Rupert Murdoch oder Silvio Berlusconi, deren langer Schatten nachwirke. Freilich haben kritische Stimmen gegen diese schnell zum Klassiker avancierte Abhandlung eingewandt, daß Crouch die postmodernen Stimmungslagen verkürze, wenn er nur ökonomische Aspekte hervorhebe und nicht auch politische wie die Angleichung der Parteien sowie die sukzessive Schwächung der Nationalstaaten, die den wichtigsten Raum für Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit bereitstellen.

Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen

In „Postdemokratie II“ wunderte sich Crouch drei Jahre nach der Lehman-Pleite über das „befremdliche Überleben des Neoliberalismus“. Der dritte Band analysiert nun die „neoliberale Verzerrung“ der modernen Informations- und Wissensgesellschaft. Zunächst fällt auf, daß der emeritierte Professor von der University of Warwick nicht die Großwetterlage nach der längst nicht ausgestandenen Weltfinanzkrise erörtert. Auch die Eurokrise schwelt weiter. Als Reaktion folgte nach jahrzehntelanger Deregulierung ein Umschwung hin zu staatlicher Regulierung – der Neoliberalismus ist mehr denn je umstritten.

Statt weiter auszuholen, findet Crouch den Ausgangspunkt seiner Untersuchung in einem Ereignis, dem symptomatischer Wert zukommen soll: 2014 wurde bekannt, daß das staatliche britische Gesundheitssystem (NHS) Ärzten für eine Demenz-Diagnose eine Prämie von 55 Pfund zu zahlen bereit ist, da sich schon seit einiger Zeit zeige, daß derartige Befunde häufig zu spät erfolgen. Folglich stiegen die Kosten für die Behandlung der Patienten. Die Empörung über diese NHS-Absicht war groß.

Von diesem Beispiel ausgehend, belegt Crouch, wie sehr öffentliche Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen und Polizei immer mehr privatisiert und gewinnorientiert wurden. Die Frage liegt auf der Hand, ob sie noch in der Lage sind, ihre Aufgaben adäquat zu erfüllen. Es fällt auf, daß der Verfasser hauptsächlich sein Heimatland im Blick hat. Die Tätigkeiten der genannten Institutionen würden mehr und mehr nur noch in Zahlen ausgedrückt, obwohl jeder wisse, daß die Arbeit eines Lehrers, eines Arztes und anderer Dienstleister weit über das monetäre Äquivalent ihrer Leistungen hinausgehe.

Crouchs Gegenspieler, auf dessen Gedankengut immer wieder Bezug genommen wird, ist kein Geringerer als Friedrich August von Hayek. Der Wirtschaftsnobelpreisträger hat eine Erkenntnis in das Zentrum seines libertären Ansatzes gestellt: Marktprozesse generieren ein Wissen, das zuverlässiger, genauer und aussagekräftiger ist als dasjenige, das etwaige Surrogate, beispielsweise eine Planungsbürokratie, hervorbringen.

Umweltkosten unabhängig von Angebot und Nachfrage?

Crouch präsentiert nun viele Beispiele aus dem Alltag der britischen Gesellschaft, die diesen zentralen Hayek-Gedanken widerlegen sollen. So sage der marktinduzierte Preis, der einen Angelpunkt liberaler Vorstellungen darstelle, weniger aus, als Liberale üblicherweise meinten. Der Wert von Autos sei gegenüber der Höhe des Schadstoffausstoßes indifferent. Die Umweltschädigung sei höchstens von externen Gutachtern einzuschätzen, verlaufe demnach also unabhängig von Angebot und Nachfrage. Auch im Bereich der Bildung und in anderen öffentlichen Sektoren werden nachteilige Effekte der Privatisierung verdeutlicht. Besonders negativ wird von Crouch die Übernahme öffentlicher Aufgaben durch private Anbieter gesehen. Für einige einflußreiche Konzerne unter ihnen treffe – nicht zuletzt aufgrund ihrer Größe und Vielfältigkeit – der Grundsatz „too big to fail“ zu. Im Resümee muß Crouch einiges von seinen zugespitzten Thesen revidieren. Der englische Sozialstaat ist noch nicht am Zusammenbrechen. Im Bildungs- und Gesundheitswesen existieren sogar zukunftsträchtige Innovationen, weil ein Großteil der Bürger wie eh und je substantielles Interesse an diesen Bereichen erkennen läßt. Wer eine Darstellung über die Logik der Finanzmärkte vorlegt, sollte die internationale Dimension zumindest ansatzweise berücksichtigen. Bekanntlich kennt der Kapitalismus keine Grenzen. Daß man über das megalomane Deregulierungsprogramm TTIP – in den Medien als „Freihandelabkommen“ verharmlost – nichts liest, paßt zum eingeschränkten Untersuchungsrahmen von Crouch. Man darf hoffen, daß dieser im wahrscheinlich folgenden vierten Teil der Neoliberalismus-Schelte hinreichend erweitert wird.

Colin Crouch: Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt 2015, 250 Seiten, gebunden, 21,95 Euro.