© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/16 / 06. Mai 2016

Die Revolution hat ausgezwitschert
Lateinamerika: Verblassende sozialistische Utopien – ein Kontinent auf der Suche nach Normalität
Lukas Noll

Drei Tage ließ Venezuelas Präsident Nicolás Maduro nach dem Tod seines politischen Ziehvaters im März 2013 verstreichen, dann erklärte er ihn kurzerhand für unsterblich. „Wie Ho Chi-Minh. Wie Lenin. Wie Mao Tse- tung“, so Maduro, solle Hugo Chávez für die Ewigkeit erhalten werden. Wie ernst es der gelernte Busfahrer meinte, offenbarte er kurz darauf: Chávez’ Geist sei ihm als Vögelchen in einer Kapelle erschienen, um ihm seinen Segen zu geben, erzählte Maduro im Wahlkampf.

Drei Jahre später scheint es, als habe Maduros Vögelchen ausgezwitschert – und mit ihm auch der Traum vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Lateinamerika. Auf Venezuela beschränkt hatte Chávez seine mit dem Nationalhelden Simón Bolívar kokettierende „Revolución Bolivariana“ ohnehin nie: Mit den Dollars aus dem Erdölsektor hatte das einst wohlhabende Land Gesinnungsgenossen in ganz Lateinamerika unterstützt. Von El Salvador bis Peru mischten sich die Venezolaner nicht nur in Wahlkämpfe ein, in Kolumbien agitierten sie sogar über die Unterstützung bewaffneter Truppen wie der FARC-Guerrilla. 

Venezuela verliert seine Führungsrolle in der Region 

Sah es zwei Jahrzehnte lang so aus, als erliege ein ganzer Kontinent der Versuchung sozialistischer Utopien, kehrt nun seit einigen Monaten ein Land nach dem anderen auf den Boden der Tatsachen zurück. Venezuela muß unter Chávez’ Nachfolger mit ansehen, wie es seine Führungsrolle in der Region verliert: Es mangelt dem wenig charismatischen Maduro nicht nur an der Fähigkeit, eine vergleichbar integrierende Rolle wie Chávez einzunehmen. Auch die Ölmillionen fließen nicht mehr, seit Venezuelas Wirtschaftskraft mit dem Preissturz im Erdölsektor zum Erliegen kam. 

Zu allem Unglück für die strauchelnden Revolutionäre bröckelt die sozialistische Front auch zu Hause: Mit über 56 Prozent der Stimmen fuhr das oppositionelle Bündnis „Mesa de la Unidad Democrática“ im Dezember einen Erdrutschsieg ein. Die autokratisch regierenden Sozialisten sind dadurch zur Politik per Dekret gezwungen – und auch der letzte Rest demokratischen Scheins ist dahin, seit Maduro der Opposition im Februar offiziell den Krieg erklärt hat.

Spektakulärer hatten die Argentinier vorgelegt: Das vom Kirchner-Ehepaar in die Zahlungsunfähigkeit gewirtschaftete Land wählte in der Stichwahl am 22. November überraschend den im ersten Wahlgang noch zweitplatzierten Mauricio Macri ins Präsidentenamt. Für Argentinien ist die Wahl des wirtschaftsliberalen Unternehmers eine noch ungleich größere Zäsur: Mit Ausnahme einer Militärdiktatur wurde das Land  seit den dreißiger Jahren fast durchgehend von für wirtschaftlichen Protektionismus bekannten Peronisten regiert. 

Einen Überraschungserfolg erzielte auch die Rechtskonservative Keiko Fujimori im seit 2011 vom Linkspopulisten Ollanta Humala regierten Peru. Obwohl durch das Erbe ihres von 1990 bis 2000 autoritär regierenden Vaters Alberto Fujimori vorbelastet, schaffte sie es in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl am 10. April auf den ersten Platz. Die Stichwahl im Juni wird zeigen, ob sie oder der liberalkonservative Ex-Weltbank-Ökonom Pedro Pablo Kuczynski künftig dem Andenstaat vorsteht. 

Krise der Linken geht einher mit Generationswandel 

Weiter sozialistisch regiert bleibt Bolivien – zumindest bis 2020. Erst 2014 haben die Bolivianer den seit 2005 amtierenden Staatspräsidenten Evo Morales mit überwältigender Mehrheit bestätigt. Daß die „Revolución“ aber auch hier nicht das beanspruchte Hausrecht hat, machten die für ihre Aufmüpfigkeit bekannten Bolivianer dem zum Personenkult neigenden Morales im Februar überdeutlich klar: Bei einem Referendum über eine Amtszeitsverlängerung über die in der Verfassung verankerten zwei Wahlperioden hinaus erlitt Morales eine deutliche Wahlschlappe. 

Vier weitere Jahre im höchsten Staatsamt trauen der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff wohl nicht einmal mehr hartgesottene Anhänger zu. Selbst daß die Sozialistin die diesjährige Sommerolympiade in Rio noch eröffnen wird, erscheint zunehmend fraglich. Schwer angeschlagen taumelt die Regentin von Lateinamerikas größter Volkswirtschaft einem Amtsenthebungsverfahren entgegen (JF 17/16). 

Die Krise der lateinamerikanischen Linken ist nicht zuletzt einem politischen Generationenwandel und dem damit verbundenen Mangel an geeignetem Personal geschuldet: Teils haben es die charismatischen Anführer der von Land zu Land verschiedenen Bewegungen verpaßt, mehrheitsfähige Nachfolger rechtzeitig in Stellung zu bringen – wie es in Peru oder Argentinien zu beobachten war, wo Ollanta Humala und Cristina Fernández de Kirchner nicht erneut zur Wahl antreten durften. 

Sehr viel deutlicher tritt der politische „Fachkräftemangel“ aber in Gestalt weiterregierender Wunschnachfolger wie Maduro oder Rousseff zutage: Obwohl als politische Ziehkinder ihrer charismatischen Vorgänger mit einem gewissen Vertrauensvorschuß gestartet, gelang es ihnen nicht, die wirtschaftlichen Folgen ihrer protektionistischen Experimente mit eigenem Charisma zu überstrahlen. 

Venezuelas explodierende Gewaltkriminalität, die langen Lebensmittelschlangen sind Maduro alleine ebensowenig anzulasten wie der wirtschaftliche Abschwung Brasiliens einzig Rousseff geschuldet ist. Doch je amateurhafter das Stolpern der Akteure durch die politischen Skandale, desto größer ihre Angriffsfläche. So geraten schwelende Probleme mit voller Wucht zu ihren Ungunsten auf die tagespolitische Agenda.

Daß sich die Antwort von Venezuelas Regierung darauf beschränkt, führende Oppositionelle unter fadenscheinigen Anschuldigungen einzusperren und Brasiliens Regierung Hunderttausende Demonstranten zu faschistischen Putschisten erklärt, läßt die Regierenden um so mehr als Getriebene erscheinen. Denn mit der eigens betriebenen Polarisierung legt sich Lateinamerikas Linke nur einen weiteren Stein in den Weg: das völlige Fehlen einer konstruktiven Debattenkultur mit der Opposition.

„Die Linke hat schon immer das Monopol auf den wahren Volkswillen für sich beansprucht. Die ‘Anderen’ sind nach dieser Lesart nicht Teil des Volkes, sondern werden als verwahrlost, amerikahörig und reaktionär angesehen“, erklärt sich Juan Carlos Hidalgo vom Instituto Cato in Washington das Dilemma der Mächtigen von links. „Wenn die Linke aber an Popularität verliert und die ‘Anderen’ zur Mehrheit werden, muß auf Verschwörungstheorien zurückgegriffen werden, um sich weiterhin als Volkes wahre Stimme zu stilisieren.“ 

„Der Moment des Wandels ist gekommen“

Weniger dramatische Gründe für den Paradigmenwechsel führt Michael Shifter vom Thinktank Inter-American Dialogue an: „Wenn man genauer hinsieht, haben sich diese Regierungen sehr lange gehalten. In demokratischen Systemen gibt es aber Ermüdungserscheinungen, die Leute suchen nach Alternativen. Erste Anzeichen dieser Ermüdung gibt es bereits, und der Moment des Wandels ist gekommen.“ Dafür spricht auch Morales’ Niederlage im Referendum um eine vierte Amtszeit trotz hoher Beliebtheitswerte von über sechzig Prozent und einer positiven Wirtschaftsentwicklung. 

Ecuadors Präsident, der sowohl Morales als auch den Venezolanern nahestehende Linksnationalist Rafael Correa, hat es auf ein solches Referendum indes lieber nicht ankommen lassen: Obwohl das Verfassungsgericht eine Gesetzesänderung zugunsten einer unbegrenzten Wiederwahl zunächst für rechtens erklärt, will sich Correa 2017 aus der Politik zurückziehen. Spätestens dann wird sich seine „Alianza“-Bewegung der schwierigen Nachfolgefrage für den seit 2007 amtierenden Correa widmen.

Daß charismatische Politik kein linkes Monopol ist, beweist Argentiniens Macri. Der 57jährige schaffte es, seinen Überraschungsssieg zur demokratischen Revolution der bürgerlichen Mitte zu stilisieren. Als Politpopstar zelebriert er nach Jahren wirtschaftlicher Isolation Argentiniens Rückkehr in die Weltpolitik, indem er händeschüttelnd durch die Hauptstädte reist und sich beim Weltwirtschaftsforum in Davos blicken ließ. „Argentinien kehrt zurück in die Welt, und die Welt heißt es willkommen“, postete Macri auf Facebook und begann im Handstreich, wirtschaftsliberale Reformen wie aus dem Lehrbuch in die Tat umzusetzen. Dazu tanzte sogar der US-Präsident bei seinem Antrittsbesuch Tango.