© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/16 / 06. Mai 2016

Soziale Kompetenzen statt Wissen
Sachsen: Die CDU-geführte Landesregierung plant eine Schulreform, mit der die Lehrpläne an den Schulen des Freistaats ausgedünnt werden sollen
Paul Leonhard

Sachsens Kultusministerin Brunhild Kurth (CDU) will die Lehrpläne an den Schulen entschlacken. Mit dieser Ankündigung kommt sie nicht nur dem Wunsch vieler Eltern nach, die über einen unzumutbaren Leistungsdruck an den Schulen klagen, sie lenkt auch die Diskussion um die Novellierung des seit 2004 geltenden Schulgesetzes in eine neue Richtung. Kritiker warnen dagegen, daß durch eine Ausdünnung der Lehrpläne das Bildungsniveau sinkt.

Bisher waren in Sachsen klare Prämissen gesetzt: keine Veränderungen am zweigliedrigen Schulsystem, keine bei der Mindestschülerzahl, keine bei der Zügigkeit. Dabei soll es auch bleiben. Die seit 1990 CDU-geführte Landesregierung setzt bei der Bildungspolitik auf Kontinuität. Von der Opposition und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) immer wieder geforderte Veränderungen wurden stets mit der Begründung abgelehnt, daß die Schule nicht als Experimentierfeld mißbraucht werden dürfe. Es gebe keinen Grund, das Schulsystem umzukrempeln, betonte Kurth. So viel Kontinuität wie möglich und so viel Veränderung wie nötig, lautet der Grundsatz der Ministerin.

Häufig fehlen genügend Lehrer

Daß sie nun bei den Lehrplänen Änderungsbedarf sieht, dürfte mit einer Neuerung im Gesetzgebungsverfahren zusammenhängen, die die Ministerin selbst angeregt hat. Im Anhörungsverfahren wurden nicht nur Verbände und Institutionen zu Stellungnahmen aufgefordert, sondern auch interessierte Bürger.

Die Resonanz ist riesig. Insbesondere beim Thema Inklusion gingen die Forderungen der GEW, die der Regierung vorwirft, Vorgaben der Vereinten Nationen nicht konsequent umzusetzen, und die der Praktiker weit auseinander. „In der Grundschule müssen die Lehrer schon seit eh und je einen Spagat machen, denn hier sind Hochbegabte und Lernschwache in einer Klasse und müssen gleichermaßen gefördert und gefordert werden“, schreibt ein Lehrer: „Kommen nun noch körperbehinderte, lernbehinderte, geistig behinderte Kinder hinzu, bei gleich großer Klassenstärke von bis zu 28 Schülern, kann das nicht gutgehen.“

Das scheint auch den Planern im Ministerium klar, weswegen sie die geforderte „gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Förderbedarf“, nicht wirklich will, wie die GEW-Bildungsexperten erkannt haben. Der ohnehin von den meisten Eltern und Lehrern abgelehnte, aber von der UN vorgeschriebene gemeinsame Unterricht von Schülern mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf, wird im Gesetzesentwurf an „organisatorische, personelle und sachliche Voraussetzungen“ geknüpft. Diese sind aber an vielen Schulen nicht gegeben. Vor allem fehlen Lehrer. Ministerin Kurth versucht sich an einem Kunststück, an dem schon ihre Vorgänger gescheitert sind: an der „anerkannt hohen Qualität der schulischen Bildung festzuhalten und gleichzeitig die Belastung der Schüler zu senken“, wie sie es selbst formuliert. Guter Unterricht müsse die Fähigkeit entwickeln, Antworten auf eigene Fragen zu finden.

Bisher waren speziell in den naturwissenschaftlichen Fächern Spitzenanforderungen an die Schüler gestellt worden, künftig sollte mehr Wert auf die Vermittlung sozialer Kompetenzen gelegt werden, fordert FDP-Landeschef Holger Zastrow. Die Linkspartei wiederum möchte Rahmenlehrpläne, die mehr Freiraum bei der Unterrichtsgestaltung geben.

Ungewöhnlich deutlich ist die Stellungnahme der Industrie- und Handelskammer Dresden. Deren Präsident Günter Bruntsch sieht zwar keinen Grund, das Schulsystem komplett umzukrempeln, fordert die Staatsregierung aber auf, den eingeschlagenen Weg „konsequent zu Ende zu gehen“. Man habe einen ergebnisoffenen Meinungsbildungssprozeß angeboten und dürfe die Resultate dieses Dialogs nicht aus finanziellen Gründen oder politischem Kalkül als „nicht geeignet“ ablehnen. Eine Mißachtung des Bürgerdialogs würde statt Vorbehalte „gegenüber unseren politischen Entscheidungsträgern“ abzubauen, diese eher zementieren.