© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/16 / 29. April 2016

Letzter Ausweg Kulturmarxismus
Mimikry, Camouflage und das Interesse der Ideologie: Die Frankfurter Schule im Dienste des amerikanischen Geheimdienstes
Thomas Kuzias

Die Erklärungsversuche der Erschütterungen, Verwerfungen und Brüche, die mit dem 20. Jahrhundert verbunden waren, sind allgegenwärtig. Hinter der Oberflächenformel vom „Zeitalter der Extreme“ verbirgt sich indes ein Jahrhundert der Ideologien, deren Konfliktmuster die Konturen eines europäischen Bürgerkrieges aufwies. 

Demzufolge spielten in dieser Epoche sehr abstrakte, die Ideologien als elementare Glaubenskomplexe konstituierende Vorstellungen und Begriffe eine wesentliche Rolle. Um ein angemessenes Verständnis dieser Semantiken wird wohl noch lange erbittert gerungen werden. Während der Nationalsozialismus als „Radikalfaschismus“ (Ernst Nolte) ein ausgezeichnetes Studienobjekt bildet, wird die Rolle der zweiten Großideologie des Jahrhunderts, des Marxismus und seiner Derivate, nicht selten marginalisiert.

Doch der klassische Parteimarxismus ist in Deutschland längst ad acta gelegt; die Sozialdemokraten entledigten sich seiner 1959 in Bad Godesberg; den Kommunisten und ihren Nachfolgern gelang es im Zuge der mitteldeutschen Wende von 1989/90 den einst alles beherrschenden Marxismus-Leninismus abzuschütteln. Anders verhält es sich mit dem erfolgreichsten Ableger der Ideenreihe des Marxismus, dem schillernden Neomarxismus der sogenannten Frankfurter Schule. Sie ist bis heute überaus wirkmächtig und gilt als das eigentliche ideologische Rückgrat der Bundesrepublik, wie das Standardwerk über „Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“ (3. Auflage 2007) nachweist.

Wie konnte eine neumarxistisch orientierte Denkströmung derart staatstragend werden? Und vor allem: Was ist die Frankfurter Schule? Dazu gibt es zwei Auskünfte, eine weithin bekannte und eine eher unbekannte. Die intellektuellen Köpfe erkannten – so hebt die offizielle Sichtweise an – frühzeitig, daß der sowjetische Versuch der Verwirklichung eines Kommunismus mit dem humanistischen Gehalt des Marxismus nicht übereinzubringen war. 

Marxisten im Dienste einer kapitalistischen Weltmacht

Stattdessen inaugurierten sie eine modernisierte Neubegründung der sozialistischen Tradition, bevor sie im Zuge der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 aus rassischen Gründen in die Emigration gezwungen wurden. Nach 1945 kehrten sie in die Bundesrepublik zurück und inspirierten, was nicht ohne fortschrittsfördernde Konflikte vonstatten ging, die Kulturrevolution von 1968, in deren Gefolge die Bundesrepublik erst recht eigentlich zu ihrer gegenwärtigen Form fand und seitdem als stabile Demokratie und offene Gesellschaft ein positives Beispiel deutscher Staatlichkeit darstellt, wie die heutigen Adepten dieser Schule selbstzufrieden resümieren würden.

Natürlich rufen derartige Erfolge auch Zweifler oder politische Gegner auf den Plan – und doch hat eine wirklich kritische Sicht auf die Frankfurter Denker sich auf vor allem ein Schlüsseldokument zu konzentrieren. Dabei handelt es sich um „33 Thesen“, die im amerikanischen Exil entstanden und Anfang Februar 1947 von Herbert Marcuse in deutscher Sprache abgefaßt wurden (Feindanalysen, 2. Auflage 2007). Das vertrauliche Papier ist indes nicht das alleinige Produkt Marcuses, sondern wurde Ende des Jahres 1946 bei Diskussionen im innersten Zirkel der Frankfurter Schule konzipiert, den Max Horkheimer anleitete. Es wurde mehrfach diskutiert, ergänzt und erweitert und war über fast zwei Jahre hinweg virulent. Prinzipiell gilt: Wer diese in Paragraphenform abgefaßten Thesen nicht kennt, weiß nicht, was die Frankfurter Schule ihrer ersten Natur nach war.

Ihr Ausgangspunkt war, daß der Westen insgesamt sich nach dem Sieg über den Nationalsozialismus selbst faschisieren würde, wodurch sich weltweit neo-faschistisches Kapital und revolutionsunfähiger Sowjetblock gegenüberstünden. Aber nicht die verfehlte Zeitdiagnose ist letztlich bemerkenswert, sondern ihr extrem orthodoxer Marxismus und dessen utopistische Ziele: Abschaffung von Herrschaft, Ausbeutung, Arbeitsteilung und (Lohn-)Arbeit. Die politische Haltung der Frankfurter Schule entpuppt sich als ein konsequenter, die Option von Anarchie und „Terror“ (Horkheimer, Gesammelte Schriften Band 19) einschließender Leninismus – allerdings ohne Partei und ohne Arbeiterklasse. 

Diese Praxislücke ließ sich in Amerika nicht überbrücken, sondern verwies nach Westeuropa und Westdeutschland. Von der Sache her aber handelt es sich hier um eine Art Blaupause für einen Zivilisationsbruch nach bolschewistischem Vorbild, auch wenn der katastrophische Bruch als „Sprung in den Sozialismus“ verklärt wurde. Mit dieser denkwürdigen Programmatik, die im ersten Heft der erneuerten Zeitschrift für Sozialforschung erscheinen sollte, wollte man der „allgemeinen Orientierungslosigkeit“ nach dem Epochenschnitt von 1945/46 entgegenwirken. Die originäre Frankfurter Schule war, so muß die Wesensdefinition lauten, die geschäftigste Gruppe der am meisten progressiven, pseudomessianischen und revolutionstrunkenen Elemente der Ewigen Linken.

Der gewonnene Gesichtspunkt der verborgenen innersten Verfaßtheit der Frankfurter Schule leitet über zur anzuzeigenden Edition. Im Frühjahr 1943 traten drei ihrer Mitarbeiter in den Dienst des amerikanischen Geheimdienstes OSS ein: Herbert Marcuse (1898–1979), Otto Kirchheimer (1905–1965) und der Sozialdemokrat Franz Neumann (1900–1954), der als Doppelagent auch für die Sowjetunion agierte. Womit sich sofort die Frage stellt, wie man sich die Tätigkeit überzeugter Marxisten im Dienste der führenden kapitalistischen Weltmacht vorzustellen habe? Die umfangreiche Edition und das Vorwort des italienischen Herausgebers, Raffaele Laudani, ermöglichen hierzu nunmehr ebenfalls zwei Auskünfte. Eine weithin bekannte und eine eher unbekannte.

Die Amerikaner waren an Informationen über den nationalsozialistischen Gegner interessiert, die Emigranten waren Deutschland-Experten mit hohen wissenschaftlichen Qualifikationen. Über diesen Deal hinaus hatten sie als rassisch Verfolgte gute Gründe, sich in die Front gegen „Nazideutschland“ einzureihen; darüber hinaus konnten sie so ihren Lebensunterhalt bestreiten, denn um die Finanzlage der Frankfurter Schule war es seinerzeit schlecht bestellt. Die kollektiv oder einzeln verfaßten einunddreißig Berichte und Analysen, die hier erstmals vollständig auf deutsch verfügbar werden, sind demzufolge als antifaschistischer Beitrag zu werten. Sie decken eine große Bandbreite von strategischen Fragestellungen ab (unter anderem die Gestaltung Nachkriegsdeutschlands, Bestrafung von Kriegsverbrechern) und stellen eine außerordentlich interessante Lektüre dar.

Nach 1945 hatten die USA plötzlich andere Interessen

Allerdings blieb die Zusammenarbeit zweier derartig unterschiedlicher Interessenlagen nicht ohne Konflikte, was – wie der Herausgeber herausstellt – „innerhalb der amerikanischen Verwaltung zu regelrechten ‘Schlachten’ führte – die die Frankfurter Gruppe fast immer verlor“. Hiermit wird die ambivalente Seite des marxistischen Kriegseinsatzes sichtbar. Denn immer wieder schossen die engagierten Geheimdienstler über das Ziel hinaus, was an zahlreichen Vorschlägen deutlich wird, die letztlich im Interesse ihrer antikapitalistischen Agenda standen und auf die bürgerliche Substanz Deutschlands zielten, wie die Vorschläge zur Verstaatlichung von Schlüsselindustrien, ausufernde Namenslisten von Wirtschaftsführern, Demokratie als Arbeiterdemokratie. 

Der Nürnberger Hauptankläger Robert Jackson beispielsweise stand der ökonomischen Ursachenforschung Neumanns äußerst ablehnend gegenüber, woraufhin dieser aus Protest zurücktrat. Marcuse und Kirchheimer wurden, da der „linke“ OSS geschlossen wurde, ins Außenministerium versetzt, was einer Degradierung gleichkam. Die konservativen Amerikaner verfolgten eigene Ziele in Deutschland, indem sie das christdemokratische Zentrum aufbauten.

Insofern war der Kriegseinsatz der Frankfurter Schule eine Episode, ebenso wie die „33 Thesen“ – und doch sind es solche typischen Episoden, die ein stets verklärtes Phänomen der deutschen Ideologiegeschichte besser verstehen helfen. Die begabten Intellektuellen aber hatten ihre Lektion gelernt und schalteten, als die Amerikaner die kapitalistische Wiedererrichtung Westdeutschlands forcierten (Sommer/Herbst 1948), ihr Theoriedesign endgültig um. Nicht mehr die altmarxistische Politisierung der Ökonomie steht seitdem im Zentrum, sondern die schon länger vorbereitete kritisch-intellektualistische Thematisierung der Kultur; der zuvor verachtete Überbau avanciert zum erfolgversprechenderen Kampffeld (Kulturmarxismus). Marcuse wird sich später diesem Paradigmenwechsel anschließen, verweist doch mancher Gedanke der „33 Thesen“ auf den kommenden messianischen Aufbruch des Jahres 1968.

Raffaele Laudani (Hrsg.): Franz Neumann, Herbert Marcuse, Otto Kirchheimer. Im Kampf gegen Nazideutschland. Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943–1949, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2016, gebunden, 813 Seiten, 39,95 Euro