© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/16 / 29. April 2016

Er denkt nicht weit genug
Gutes Regieren, schlechtes Regieren: Thilo Sarrazin hat mit „Wunschdenken“ ein neues Buch vorgelegt
Thorsten Hinz

Mit seinen Büchern „Deutschland schafft sich ab“, „Deutschland braucht den Euro nicht“ und „Der neue Tugendterror“ ist Thilo Sarrazin seit 2010 zum erfolgreichsten deutschen Sachbuchautor der Gegenwart avanciert, und das nicht nur unter ökonomischen Gesichtspunkten. Kein anderer hat eine vergleichbare Resonanz erlangt, wobei die Reaktionen völlig unterschiedlich ausfallen.

Politik und Medien reagieren auf den früheren Berliner Finanzsenator und Bundesbanker geradezu allergisch. Sie haben ihm das Attribut „umstritten“ angeheftet. Diese Zuschreibung bedeutet noch nicht, daß jemand geistvoll und erhellend ist – auch ein Jan Böhmermann darf sich seit seiner Ziegenfick-Lyrik zu den Umstrittenen zählen –, doch es ist ein erster Hinweis darauf, daß jemand sich seine Unabhängigkeit bewahrt hat und sich dem Zweckrationalismus des Politik- und Medienbetriebs verweigert. Die meisten der Journalisten, Publizisten und Experten, die mit freigeistiger Attitüde daherkommen, sind lediglich Konformisten, die darlegen, wie man weiter, immer weiter in die falsche Richtung marschiert, nur eben effektiver und geräuschärmer. Sarrazin hingegen möchte ein „Halt!“ gebieten. In der Kritik, die er damit auf sich zieht, steckt viel Selbsthaß seiner Kritiker, die an ihrem Ungenügen, dem intellektuellen und dem moralischen, klammheimlich leiden.

Sarrazin ist zum Sprachrohr einer stimmlosen Opposition geworden, die kaum über öffentliche Artikulationsmöglichkeiten verfügt. Erst die jüngsten Erfolge der AfD haben die erstarrten Verhältnisse ein wenig aufgelockert. Dem Befund widerspricht nicht, daß er in der Bild-Zeitung ein Forum erhielt, um für seine Thesen und sein neues Buch zu werben. Bild hat mit der bedingungslosen Unterstützung für Merkels Politik der Grenzöffnung und die Verdammung ihrer Gegner als Unmenschen sein Stammpublikum beleidigt, das nicht dumm genug ist, um die Beleidigung nicht zu bemerken.

Inzwischen ist die Auflage des Blattes deutlich unter die Zwei-Millionen-Marke gerutscht, was zu der unternehmerischen Überlegung geführt hat, mit Sarrazin verprellte Leser zurückzuholen. Politisch bedeutet das vorerst nicht mehr als eine Diskurs-Simulation, die den anderen Medien sogar die Möglichkeit eröffnet, Sarrazin erst recht mit dem Schmuddel-Image zu identifizieren.

Anliegen und Inhalt des Buches hat Sarrazin in zwei programmatischen Sätzen zusammengefaßt: „Deutschlands Zukunft wird sich nicht an Genderfragen oder Klimadebatten entscheiden – Deutschlands Zukunft entscheidet sich an den Themen Währung, Einwanderung, Bildung. Damit steht zugleich auch die Zukunft Europas auf dem Spiel.“ Er führt seine bekannten Themen fort, vertieft und bündelt sie zu einer politischen Gesamtschau. Zugleich will er Handlungsempfehlungen für eine bessere Politik geben.

Die ersten fünfzig Seiten werden viele Leser vermutlich überblättern. Sarrazin schlägt einen Bogen bis zu Platon und Sokrates und läßt beim Nachdenken über gutes Regieren kaum einen politischen Denker von Bedeutung aus. Jede Zeile ist richtig, doch leider folgt der Autor den Ratschlägen Kurt Tucholskys für einen schlechten Redner: „Fang immer bei den alten Römern an und gib stets, wovon du auch sprichst, die geschichtlichen Hintergründe der Sache. Das ist nicht nur deutsch – das tun alle Brillenmenschen. Immer gib ihm Historie, immer gib ihm.“ Man ist erleichtert, wenn er mittendrin ankündigt, „die folgenden 800 Jahre antiker Geschichte, Philosophie und Staatstheorie“ zu überspringen.

Der Ansturm tatsächlicher und vermeintlicher Flüchtlinge holt ihn dann mit Macht in die Gegenwart zurück. Sarrazin ist explizit der Auffassung, daß eine Regierung vor allem für das eigene Land und das eigene Volk zuständig ist und es keine Verpflichtung gibt, sich für alles Elend der Welt zuständig zu fühlen und die Selbstabschaffung zu betrieben. Merkels Entscheidung zur Öffnung hält er schlichtweg für eine Katastrophe. Das kulturelle und kognitive Profil der meisten Migranten ähnele dem der muslimischen Zuwanderer aus diesen Herkunftsländern, die bereits in Europa sind. Es sei daher anzunehmen, daß sie sich hinsichtlich Bildung, Arbeitsmarktintegration, Sozialleistungsbezug, Kriminalität und Anfälligkeit für fundamentalistisches Gedankengut ähnlich entwickelten.

Damit wird zerstört, was den wirtschaftlichen Erfolg und den sozialen Frieden in Deutschland verbürgt hat: Zum einen das kognitive Kapital, das durchschnittliche Intelligenzniveau im Land. Schon seit Jahren werden die Anforderungen in den Schulen und an den Universitäten immer weiter abgesenkt, um Schülern und Studenten formale, faktisch aber wertlose Abschlüsse zu ermöglichen. Zerstört wird auch das soziale Kapital, vor allem das konsensstiftende Vertrauen. Die Institutionen sind nichts Abstraktes, sie funktionieren nur, wenn die Bürger die zugrunde gelegten Regeln akzeptiert und verinnerlicht haben, wenn im Gemeinwesen eine relative kulturelle Homogenität herrscht, die sich allmählich herausgebildet hat. Die massenhaft importierte Verschiedenheit löst den Regelkonsens auf, was zu Reibungsverlusten und „Transaktionskosten“ führt. Das gilt auf inner- wie auf zwischenstaatlicher Ebene. Sarrazin verweist darauf, daß weder Politik noch Gesellschaft in Griechenland etwas Schlimmes daran finden, sich durch Betrug den Zugang in die Eurozone verschafft zu haben. Für diesen fatalen Zusammenschluß der kulturellen Unterschiede unter einem gemeinsamen Währungsdach werden hohe Transaktionskosten fällig.

Obwohl Sarrazin die politische Praxis kennt und sich auf sie beruft, wirken seine Analysen allerdings oft merkwürdig politikfern. Zwar geht er weiter als die meisten Analytiker, aber nicht weit genug. Es wirkt geradezu rührend, wenn er hinsichtlich der Massenzuwanderung ein kontrafaktisches und rationales Handlungskonzept entwirft: Man hätte, bevor im Schengen-Raum die Grenzkontrollen entfielen, erst einmal ein sicheres Grenzregime an den Außengrenzen installieren müssen. Man hätte durchsetzen müssen, daß alle Staaten sich an das Dubliner Übereinkommen zur Regelung der Asylverfahren halten – nötigenfalls durch finanziellen und politischen Druck.

Zudem hätte festgelegt werden müssen, daß die Personenfreizügigkeit nicht zum Anspruch auf Sozialleistungen in einem anderen als im Herkunftsland führt. Und schließlich hätte das Asylrecht auf Personen beschränkt werden müssen, die sich tatsächlich politisch betätigt haben und deswegen nachweislich verfolgt werden.

Das wäre in der Tat vernünftig gewesen. Warum ist man nicht so verfahren? Der Autor führt David Hume an, der die menschliche Vernunft als Sklavin der Gefühle bezeichnet hatte, sowie Max Webers Unterscheidung zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik. Er sieht bei den Politikern eine Abfolge aus Unwissenheit, Anmaßung, Bedenkenlosigkeit und Egoismus am Werk, an deren Ende Betrug und Selbstbetrug stehen. In der Flüchtlingsfrage hätten die Politiker vor allem in Deutschland „Angst vor der Magie der Bilder“ gehabt.

Das alles spielt gewiß eine Rolle, aber es begründet noch nicht die schon im Buchtitel angedeutete These, daß die deutsche Politik sich aus einem „Wunschdenken“ herleitet. Das ist allenfalls eine Teil- oder Zwischenerklärung, die zur Frage führt, wie eine derartige Regression, Fehlkonditionierung und Schicksalsblindheit nicht nur der politisch-medialen Klasse, sondern der bundesdeutschen Gesellschaft insgesamt zustande gekommen ist, auf welchen historischen, politischen und psychologischen Grundlagen sie beruht und wem sie nützt.

Sarrazin erlaubt sich wenigstens einen Hinweis auf die „internationalistische Sicht Merkels“, die „möglicherweise das Wohl der Welt im allgemeinen“ im Blick habe, „kaum aber noch die Interessen Europas und schon gar nicht das Interesse der Deutschen an der Zukunft der eigenen Nation, dem Schutz ihres Lebensumfeldes und ihrer kulturellen Identität“. Hier deutet sich an, daß das scheinbar irrationale Konzept der deutschen Selbstzerstörung vielleicht einer höheren politischen Rationalität angehört. Es ist bezeichnend, daß der Autor es nicht wagt, diesen Gedanken weiterzuspinnen.

So bleibt der Eindruck aus dem Buch zwiespältig. Einerseits ist es klüger, mutiger und materialreicher als die meisten politischen Bücher zur Gegenwart, die in etablierten Verlagen erscheinen. In diesem Sinne hat es Bestsellerqualitäten. Doch die Lektüre macht auch klar, daß der Werkzeugkasten eines „optimistischen Technokraten“ (Sarrazin über Sarrazin) zwar die notwendige Voraussetzung ist, um eine tragfähige Analyse zu erarbeiten, aber nicht ausreicht, um die Tragödie zu erklären, deren ungefragte und hilflose Objekte wir sind.





Lesungen mit Sarrazin

Im Mai geht Thilo Sarrazin (71) mit seinem neuen Buch „Wunschdenken“ auf Lesetour. Die erste Station ist am 3. Mai das sächsische Glauchau, am Tag darauf präsentiert er sich in Dresden. Die Veranstaltungen werden von Hans-Hermann Gockel moderiert. Beginn ist jeweils um 19 Uhr. Es folgen Betzigau im schwäbischen Oberallgäu (9. Mai), Berchtesgaden (10. Mai), Cottbus (12. Mai) und Leipzig (19. Mai). Den Abschluß bildet eine Buchvorstellung am 31. Mai in Düsseldorf, moderiert von dem Chefredakteur der Westdeutschen Zeitung. Im September stehen dann weitere Termine auf dem Programm.

Thilo Sarrazin: Wunschdenken. Europa, Währung, Bildung, Einwanderung – warum Politik so häufig scheitert. DVA, München 2016, gebunden, 559 Seiten, 24,99 Euro