© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/16 / 29. April 2016

Jenseits von rechts und links
Front National: Nicht nur der Bruch mit ihrem Vater zeigt die neue Zielrichtung von Marine Le Pen
Friedrich-Thorsten Müller

Seit fünf Jahren ist Marine Le Pen Vorsitzende des Front National. Am 16. Januar 2011 folgte sie als Wunschkandidatin ihrem Vater, dem Parteigründer Jean-Marie Le Pen nach, der das Amt fast vier Jahrzehnte innehatte. Was zunächst nach Kontinuität und einer harmonischen Stabweitergabe innerhalb eines „Familienbetriebs“ aussah, erweist sich rückblickend betrachtet als klarer Bruch mit dem klassisch rechtsextremen, im 20. Jahrhundert verhafteten Denken des Seniors. 

Höhepunkt dieser Häutung waren vor ziemlich genau einem Jahr Äußerungen Jean-Marie Le Pens gegenüber der rechten Wochenzeitung Rivarol, in denen er auf seiner altbekannten Meinung, daß die Gaskammern lediglich ein „Detail der Geschichte des Zweiten Weltkriegs“ seien, beharrte. Unabhängig von der juristischen Aufarbeitung des Falles, die jetzt knapp ein Jahr später mit insgesamt über 40.000 Euro Geldstrafe endete, entschied sich Marine Le Pen, ihren Vater wegen parteischädigenden Verhaltens aus dem Front National zu drängen. Gleichzeitig wurde ihm das extra für ihn geschaffene Amt des FN-Ehrenvorsitzenden aberkannt.

Jüdische Aktivisten wollen FN unterstützen

Damit hatte die 47jährige endgültig freie Bahn, den Front National von teils unverhohlenem Rassismus und Antisemitismus zu distanzieren und die „Entteufelung“ umzusetzen, die notwendig ist, um nicht nur aus ersten, sondern auch aus zweiten Wahlgängen als Sieger hervorzugehen. 

Bisher kann der FN seine Wahlerfolge nämlich regelmäßig nicht in Mandate, Macht und Einfluß umwandeln, da sich im französischen Mehrheitswahlrecht – bis hinunter auf die kommunale Ebene – in der Stichwahl stets die Wähler der etablierten Parteien für das aus ihrer Sicht „kleinere Übel“ entscheiden. 

Ehrgeiziges Ziel Marine Le Pens ist es darum, den Front National von der früheren Wahrnehmung als rechtsextreme Partei wegzuführen, um möglichst schon 2017 Frankreichs erste Präsidentin werden zu können. Der FN soll eine Partei „neuen Typs“, jenseits des bisherigen Rechts-Links-Schemas in der Politik, werden und damit für jeden wählbar. Den französischen Journalisten hat Le Pen angedroht, künftig jeden zu verklagen, der den FN „rechtsextrem“ nennt.

Daß diese Rechnung aufzugehen beginnt, ist an vielen Orten des gesellschaftlichen Lebens zu beobachten. Ein diesbezüglicher Paukenschlag war im vergangenen Oktober, daß es dem FN erstmals gelang, an der Eliteuniversität Sciences Po in Paris den Status einer offiziellen Studentenvereinigung zu erlangen. Noch vor den Sozialisten wurde die nötige Zahl von 120 Unterstützern erreicht.

Wie ernst es Le Pen mit dieser Neupositionierung ist, kann man unter anderem an deren ungezwungenem Umgang mit Schwulen und Lesben ablesen. So hat sie den Homosexuellenaktivisten Sébastien Chenu zu ihrem Berater in Kulturangelegenheiten gemacht. Der ebenfalls schwule Parteivize Florian Philippot darf in diesen Tagen außerdem gegen die Organisatoren der konservativen „Manif pour tous“ ätzen, daß die Frage der Homoehe ungefähr so interessant sei „wie die der Bonsai-Kultur“. Nicht nur bei der Homoehe, sondern ebenso in der Abtreibungsfrage geht Marine Le Pen auch auf Distanz zu konservativen Katholiken, die eine wichtige Säule des alten FN waren. Allerdings ist das nicht offizielle Parteilinie und nicht nur ihre Nichte, Marion Maréchal-Le Pen, positioniert sich in diesen Fragen anders.

Ein weiteres Indiz für den ideologischen Wandel ist die von der Parteiführung forcierte positive Haltung zum Judentum und den über 500.000 französischen Staatsbürgern mosaischen Glaubens. So befindet sich unter Leitung des FN-Zentralkomitee-Mitglieds Michel Thooris eine – allerdings zunächst außerhalb der Partei organisierte – jüdische FN-Unterstützerplattform im Aufbau. Niemand leidet in Frankreich so unter der Bevölkerungsdynamik der häufig antisemitischen Muslime, so das Kalkül der Partei, die sich in den letzten Jahren eine streng antiislamische, laizistische Ausrichtung gegeben hat.

In Wirtschaftsfragen blinkt Marine Le Pen links

Fast gänzlich aus dem rechten Parteienspektrum verabschiedet hat sich der Front National in seinen wirtschaftspolitischen Vorstellungen. Selbst die geforderte Abschaffung des Euro ist nicht wie bei der deutschen AfD marktwirtschaftlich begründet. Vielmehr soll die Wiedereinführung des Franc Frankreich die Möglichkeit zurückgeben, ohne Einmischung aus Brüssel oder Frankfurt dirigistisch tätig zu werden. 

Pierre Gattaz, der Präsident des französischen Unternehmerverbandes (Medef), bemerkte zu Recht, daß das Programm des FN dem von Mélenchons Linkspartei zum Verwechseln ähnlich sehe. Auf der Wunschliste der FN-Wirtschaftspolitiker stehen neben der 20prozentigen Abwertung des neu einzuführenden Franc die zinslose Refinanzierung großzügiger, staatlicher Ausgabenprogramme über die Notenbank und Kapitalverkehrskontrollen. 

Auch die Teilverstaatlichung der Geschäftsbanken, Schutzzölle und eine staatlich gelenkte „Reindustrialisierung“ wären Teil einer FN-Wirtschaftspolitik. An der international nicht wettbewerbsfähigen 35-Stunden-Woche will der FN dagegen festhalten. Das ebenfalls allgemein als zu niedrig eingestufte Renteneintrittsalter soll sogar von 62 auf 60 Jahre gesenkt werden, bei gleichzeitiger Anhebung des Rentenniveaus. Gegenfinanziert werden soll das alles durch höhere Steuern für Reiche.

An einer sehr bedeutenden Stelle bleibt sich der FN allerdings treu: Dem Nationalismus mit seiner Formel „Frankreich zuerst“ will und kann die Partei nicht abschwören. Darin unterscheidet sie sich auch ganz wesentlich von den identitären Strömungen, die in Frankreichs politischer Subkultur durch spektakuläre, an Greenpeace angelehnte, Aktionen eine gewisse Bedeutung erlangt hatten. Der FN fremdelt mit den Regionalidentitäten zum Beispiel im Elsaß, der Bretagne oder auf Korsika. Verhaftet im französischen Zentralismus mißt er auch der gemeinsamen europäisch-abendländischen Vergangenheit und Zukunft bisher nicht den selben Stellenwert bei, wie dies andere allgemein heute meist als „rechtspopulistisch“ etikettierte Parteien in Europa tun. 

Beatrix von Storch brachte diesen Unterschied auch zur AfD bei ihrer Suche nach einer neuen Fraktion im Europaparlament auf den Punkt: „Der Front National ist sozialistisch, wir sind liberal. Der Front National ist nationalistisch, wir sind patriotisch.“ Aus diesem Grund zog sie es vor, nach dem De-facto-Rauswurf aus der Fraktion der europäischen Konservativen bei der von Nigel Farage geführten EFDD-Fraktion und nicht bei Marine Le Pens ENF Anschluß zu suchen.





Front National und FPÖ

Der Front National und die FPÖ kooperieren seit langem auf europäischer Ebene. Seit Juni bilden sie zusammen mit der Lega Nord, dem Vlaams Belang, Geert Wilders Partei für die Freiheit (PVV) und weiteren Abgeordneten die EU-Parlamentsfraktion „Europa der Nationen und der Freiheit“. Oft werden beide Parteien als mögliche Kooperationspartner für die AfD ins Spiel gebracht. Doch wie ist es um sie bestellt? Wie funktioniert die „Entteufelung“?