© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/16 / 29. April 2016

Blüms Trojanisches Pferd
Verkehrte Welt beim Rentenrecht: Linke und die früheren Einheitsgegner der Grünen kämpfen für die Rechte von DDR-Übersiedlern
Paul Leonhard

Fritz Schaarschmidt hat seinen Humor nicht verloren. Davon konnten sich die Teilnehmer einer Protestdemonstration in Berlin überzeugen. Auf einem Transparent hatte der Bayer eine Karikatur gezeichnet, auf der ein verhärmter Rentner mit fast leerem Einkaufswagen erstaunt einen das Leben genießenden Altersgenossen anspricht, dessen Wagen überquillt: „Hallo Emil, hast wohl im Lotto gewonnen?“ Der antwortet: „Ne, bei der Stasi gearbeitet.“

Hinter dem Witz verbergen sich bittere Wahrheiten. Zum 1. Juli steigen die Renten um 4,25 Prozent (West) und um 5,95 Prozent (Ost). An meisten profitieren daher all jene, die bis zum Zusammenbruch der DDR diese unterstützt haben. Stasi-Schergen oder leitenden Partei- und Staatsfunktionären wurde zwar die Grundrente gekürzt. Hochschuldozenten, Lehrer, SED-Journalisten, Leistungssportler oder andere, die das rote Banner hochhielten, bekommen jedoch bessere Renten vom bundesdeutschen Staat als jene, die mit dem sozialistischen Regime in Konflikt gerieten.

Darunter auch jene, die noch vor 1990 die DDR verlassen hatten. Waren sie im Kalten Krieg als Propagandainstrument und hochqualifizierte Spezialisten im Westen hoch willkommen, werden sie nun als Rentner massiv benachteiligt. Ursprünglich galt für sie das Fremdrentengesetz (FRG). Dieses gliederte alle Deutschen in das Rentensystem ein, die kriegsfolgenbedingt außerhalb des Grundgesetzes gelebt und gearbeitet haben. Die Betroffenen sollten „in der gesetzlichen Rentenversicherung grundsätzlich so behandelt werden, als ob sie ihr gesamtes Arbeitsleben in der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegt hätten“, hieß es in einem Leitfaden des Bundesinnenministeriums. Als im Zuge der Wiedervereinigung ein Rentenüberleitungsgesetz (RÜG) erarbeitet wurde, das die Renten und Rentenanwartschaften der zu diesem Zeitpunkt in der DDR lebenden Menschen bundesrechtsvertraglich regeln sollte, berührte das die Rentenanwartschaft der Altübersiedler nicht. Das neue Gesetz, vom Bundestag 1991 beschlossen, erkennt nur die in der DDR erworbenen Rentenansprüche an und stellt die bisherigen DDR-Bürger nicht mehr wie bisher West-Rentnern gleich.

„Ein Verwaltungsakt mit absurder Rätselhaftigkeit“

Ein Jahr später wurde in dieses Gesetz „unter einer bisher ungeklärten Urheberschaft“ ein „Trojanisches Pferd“ eingebaut, wie es Jürgen Holdefleiß, Vorsitzender der Interessengemeinschaft ehemaliger DDR-Flüchtlinge (IEDF), bezeichnet. Es war Norbert Blüms Arbeitsministerium, das ein kleines, aber entscheidendes Detail ändern ließ. Danach werden alle Flüchtlinge aus der DDR, die nach 1936 geboren wurden, künftig wie jene DDR-Bürger behandelt, die bis zu dessen Ende in ihrem Staat lebten. Betroffen waren etwa 317.000 Personen, die aber von der Verringerung ihrer Rentenansprüche erst mit dem Eintritt in den „wohlverdienten Ruhestand“ erfuhren. Inzwischen leben nur noch etwa  250.000 Betroffene. Die Rentenverluste summieren sich bei Ehepaaren auf bis zu 800 Euro.

„Wer ausreiste, wird bestraft“, titelte treffend die FAZ: „Übersiedler und Flüchtlinge aus der DDR haben doppelte Nachteile: Erst wurden sie von der Stasi schikaniert und verloren ihren Besitz, dann strich ihnen die Bundesrepublik große Teile ihrer Rentenansprüche.“ Von einem „Verwaltungsakt, der von einer absurden Rätselhaftigkeit geprägt“ sei, spricht Holdefleiß, dessen gemeinnütziger Verein gegen eine rückwirkende Enteignung der DDR-Altübersiedler kämpft. Der IEDF-Chef verweist darauf, daß von dieser RÜG-Interpretation weder ein Datum noch eine Unterschrift, noch der Wortlaut bekannt sei und es „offensichtlich kein Protokoll über ein entsprechendes Vorhaben“ gebe.

Auch der Petitionsausschuß des Bundestages konnte in den Unterlagen zur Gesetzgebung nichts entdecken, nach dem die sich für „Übersiedler ergebenden Folgen absehbar und gewollt“ gewesen wären und forderte Ende Juni 2012 einstimmig eine Neuregelung der Renten für Übersiedler und Flüchtlinge. Für diese nach 1936 geborene Personengruppe sollten weiterhin die Tabellenentgelte nach dem Fremdrentengesetz angewendet werden, so die Bundestagsabgeordneten, die kein Verständnis dafür hatten, daß es eine „Wiederausgliederung aus dem westdeutschen Rentensystem“ gibt, die teils zu „erheblichen Rentenminderungen“ führt. Für DDR-Übersiedler müsse das gleiche Recht gelten wie für deutschstämmige Aussiedler aus Polen.

Das Bundesverfassungsgericht sah das anders und entschied, daß „die Reduzierung der Entgeltpunkte grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar“ sei. Und die Bundesregierung argumentierte in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage, daß die „Weitergeltung des Fremdrentenrechts für Übersiedler bis weit in die Zukunft dem Kernziel der Rentenüberleitung entgegengestanden hatte“. Danach gibt es für DDR-Flüchtlinge keine Besitzstandsgarantie, und eine rückwirkende Schlechterstellung ist aus Sicht der Regierenden möglich.

Das RÜG werde bewußt falsch ausgelegt, sind sich Wolfgang Graetz und Wolfgang Mayer sicher. Sie hatten zu dem Protestmarsch vom Bundessozialministerium zum Bundeskanzleramt am 13. April aufgerufen, bei dem 200 Betroffene aus ganz Deutschland auf den „Rentenbetrug durch die Bundesregierung“ aufmerksam machten. Der Regierungskoalition ist das offenbar egal. So ist es eine Ironie des Schicksals, daß ausgerechnet die SED-Nachfolger sich für „Republikflüchtlinge“ einsetzen: Mit der Drucksache 18/7699 brachte die Linksfraktion kürzlich einen Antrag im Bundestag ein, nach dem die Schlechterstellung dieser Personengruppe, „auch wenn die rechtlichen Regelungen vor der Gerichtsbarkeit standhalten“, nicht hingenommen werden darf.

Auch die Grünen-Fraktion fordere, Übersiedler künftig nach den FRG-Tabellen zu bewerten, ließ der Bundestagsabgeordnete Markus Kurth in einem Grußwort den Demonstranten ausrichten. Deren Protest sei ein wichtiger Baustein, um den Druck auf die Bundesregierung aufrechtzuerhalten.

Informationsportal der Interessengemeinschaft ehemaliger DDR-Flüchtlinge (IEDF): www.flucht-und-ausreise.info