© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/16 / 29. April 2016

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Abstand zu Nordkorea
Paul Rosen

Das deutsche Parlament ist zwar nicht das größte der Welt, aber das Wahlrecht ist so kompliziert, daß es weltweit einen Spitzenplatz für besonders unverständliche Vorschriften haben dürfte. Den meisten Wählern dürfte kaum bewußt sein, daß die „Erststimme“ bei der Bundestagswahl im Ergebnis fast keine Bedeutung hat, sondern die „Zweitstimme“ die eigentlich wichtige ist. Unterliegt ein Kandidat im Wahlkreis (Erststimmenwahl), dann kommt er wahrscheinlich über die Landesreserveliste (Zweitstimmenwahl) seiner Partei wieder in den Bundestag. 

Es ist mit dem „personalisierten Verhältniswahlrecht“ fast unmöglich, einen Politiker aus dem Bundestag zu wählen. Nehmen wir als Beispiele die Fraktionsvorsitzenden von CDU/CSU oder SPD, Volker Kauder und Thomas Oppermann. Würden die Wähler sie in ihren Wahlkreisen durchfallen lassen, beide kämen über die Landesreservelisten ihrer Parteien wieder rein. 

Das System ist durch mehrere Verfassungsgerichtsurteile so kompliziert geworden, daß Verzerrungen des Wahlergebnisses durch Überhang- und Ausgleichsmandate ausgeglichen werden müssen. Diese entstehen, wenn eine Partei dominiert (CDU/CSU) und mehrere kleine Konkurrenten (SPD, Grüne, Linke, FDP) mit weitem Abstand folgen und zu wenige Direktmandate gewinnen. Die ursprüngliche Höchstzahl von 598 Abgeordneten, davon 299 direkt in Wahlkreisen gewählte, ist daher längst überschritten. Zur Zeit liegt die Zahl der Abgeordneten mit 630 weit über der gesetzlichen Zielzahl. Und die Zahl könnte weiter steigen, denn daß sich im 2017 zu wählenden Bundestag sechs Fraktionen bilden könnten, war in Gesetz und Urteilen nicht erwartet worden. Besonders durch das Aufkommen der AfD könnte die Zahl der Abgeordneten auf 700 beziehungsweise sogar bis zu 800 steigen. 

Damit würde der Bundestag zwar nicht die Größe des weltweiten Spitzenreiters, des chinesischen Volkskongresses (2.987 Abgeordnete) erreichen, aber die zweitplazierten Nordkoreaner (687) könnten locker getoppt werden. Und in dieser Nachbarschaft möchte sich Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) nicht befinden. Er ahnt ja schon, welche Vorwürfe dann kommen: Der Bundestag hat immer weniger zu sagen, weil fast nur noch Vorgaben der EU-Kommission umzusetzen sind. Dann würde er zu hören bekommen, daß immer mehr Abgeordnete immer weniger zu sagen hätten. Der zweite Vorwurf: Die alten Parteien Union und SPD werden vom Wähler dezimiert, aber das von ihnen beschlossene Wahlrecht führt dazu, daß alle Abgeordneten dabeibleiben und für die neuen Abgeordneten von AfD und vielleicht FDP einfach zusätzliche Sessel in den Reichstag gestellt werden. So dürften sich die Wähler das vermutlich nicht vorgestellt haben. 

Allerdings haben die bisherigen Platzhirsche im Reichstag genau diese Vorstellung und halten nichts von Lammerts Idee, die Abgeordnetenzahl gesetzlich auf 630 zu begrenzen. Damit dürfte die Sache erneut vor dem Verfassungsgericht landen.