© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/16 / 22. April 2016

Der Flaneur
Abends wandert der Stiefel
Paul Leonhard

Pling. Mein Nachbar schnipst mit dem Zeigefinger gegen das Bierglas, schiebt es mir rüber. Eigentlich ist es kein Glas, sondern ein gläserner Stiefel. Fast noch ein ganzer Liter Gerstensaft leuchtet in ihm bernsteinfarben. Die Spitze des Stiefels zeigt auf mich. Auch ich schnipse, nehme einen großen Zug, stelle den Stiefel auf den Tisch, wische mir den Mund ab, schnipse erneut und reiche das Gefäß an den nächsten. Der nimmt es entgegen. Erneut dieses „Pling“.

Der Stiefel wandert, immer wieder aufgefüllt, seit einer guten Stunde um die hölzerne Tafel. Matt schimmern große Perlmuttknöpfe auf dunklem Cord. Mir sitzen drei Reisende in ihrer Tracht gegenüber. Weiße Oberhemden, schwarze breitkrempige Hüte, Hosen und Westen. Das Pärchen gehört zu den Freireisenden, habe ich erfragt, der Oberfranke einem Schacht an. Alle drei bauen seit fünf Tagen am Dachstuhl dieses Barockhauses.

Einer steht auf, hackt Holz und wirft es in den Ofen. Die Runde hat ein neues Thema.

Das Gespräch dreht sich gerade nicht um die angefaulten Balkenköpfe und die Risse in der Dachpappe, sondern um Hieroglyphen. Wie entstanden die ersten Buchstaben der Menschheit? Auf dem Ofen blubbert das Wasser im Topf mit den Makkaroni.

Die Handwerkerin steht auf, fischt zwei lange Stücke heraus, reicht sie ihrem Freund. Der kostet und nickt. Teller und Besteck werden verteilt. Der Topf auf den Tisch gestellt. Drei Minuten später mampfen alle.

Die Frau fröstelt. Einer der Männer steht auf, hackt Holz und wirft es in den Ofen. Die Runde hat ein neues Thema. Wie muß der ideale Schaft für eine Axt beschaffen sein? Die Eigenschaften von Holzsorten werden analysiert, über die Ableitung von Kräften sinniert.

Die leeren Teller stehen auf dem Tisch. Alle sind satt. Der Stiefel kreist. Es ist die Frau, die aufsteht, das Geschirr zur Spüle trägt. Warum sie? überlege ich. Offenbar stört sie sich als einzige an dem schmutzigen Geschirr auf der Tafel. Aber warum? Und warum tragen alle Anwesenden außer mir und der Frau einen Zopf? „Pling“ macht es da. Mein Nachbar reicht den Stiefel. Ich greife zu. „Pling.“