© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/16 / 22. April 2016

Preußens Gelehrter in Uniform
„Mit griechischer Seele und altfritzischem Geist“: Zum 125. Todestag Helmuth von Moltkes
Georg Schuch

Den Deutsch-Dänischen Krieg durfte der 1858 definitiv zum preußischen Generalstabschef berufene Helmuth von Moltke zwar konzipieren, aber beim Vormarsch und beim Sturm auf die Düppeler Schanzen am 18. April 1864 kümmerten sich die Kommandierenden nicht um seine Pläne. Erst in der zweiten Phase, als sich der Feldzug festgefahren hatte, gewann Moltke als Stabs-chef der preußisch-österreichischen Streitmacht unmittelbaren Einfluß auf die Truppenführung und besiegelte Dänemarks Niederlage. Nach dieser Talentprobe organisierte „der große Schweiger“, diesmal jeweils von Anfang an mit der operativen Führung betraut, die siegreichen Feldzüge gegen Österreich (1866) und Frankreich (1870/71), die mit der Gründung des zweiten Deutschen Reiches im Spiegelsaal zu Versailles am 18. Januar 1871 abschlossen. 

Drei Kriege in sieben Jahren gewonnen – kein anderes militärisches Genie der Neuzeit, Friedrich der Große und Napoleon I. eingeschlossen, 

weist eine so stolze Bilanz aus. Entsprechend als „Held der Nation“ gefeiert, dankten die Deutschen dem neben Otto von Bismarck und Albrecht von Roon dritten „Reichsbaumeister“ mit Denkmälern und Dutzenden von Ehrenbürgerschaften. Ein Moltke-Mythos entstand, der sich öffentlich zwar abschwächte, dem das Offizierskorps aber ungebrochen bis zur Reichswehr- und Wehrmachtzeit huldigte. An Moltke als der Personifikation eines Strategen orientierten sich, auch an dessen persönlichem Habitus als Gelehrtem in Uniform, sein zweiter Amtsnachfolger Alfred Graf von Schlieffen ebenso wie Hans von Seeckt (1920–1926) und Ludwig Beck (1935–1938), der sich als Exponent der Verschwörung vom 20. Juli 1944 nicht zuletzt als Erbe des von Moltke geformten preußischen, christlichen Normen gehorchenden Soldatenethos legitimiert sah. 

Diese Faszination des Vorbildes ist nach 1945 geschwunden. Lediglich für Militärhistoriker weltweit und für Strategielehrer an US-Army-Colleges sei, wie sein Biograph Jochen Thies lakonisch bemerkt („Die Moltkes“, 2010), der Name dieses großen Deutschen noch ein Begriff. Die politische Klasse der Bundesrepublik indes, die sich nach 1990 im Eiltempo aus der deutschen Geschichte verabschiedete, assoziiert mit dem Namen bestenfalls Ludwig Becks Mitstreiter, den Urgroßneffen Helmuth James von Moltke, der im Januar 1945 als Hitler-Gegner hingerichtet wurde. 

Daß die Bundeswehr bei so viel Traditionsabbau nicht hinten anstehen will, ist selbstverständlich. In Dabel bei Schwerin, so notiert Thies, unweit der Ursprungsheimat des mecklenburgischen Adelsgeschlechts, habe man zwar 1994 eine „Moltke-Kaserne“ eröffnet. Die sei jedoch mittlerweile wieder geschlossen worden. Zu Recht titelte darum Martin van Crevelds Essay zum 200. Geburtstag am 26. Oktober 2000: „Der vergessene Sieger“.

Daß eine, wie es in der von vielen westdeutschen Historikern adaptierten SED-Polemik hieß, „Symbolfigur des preußisch-deutschen Militarismus“ spätestens aus dem kollektiven Gedächtnis der Berliner Republik verschwunden ist, kann bei den Aversionen gegen alles Militärische und den antinationalen Dispositionen des Zeitgeistes nicht überraschen. Wie eine Würdigung des Preußen-Historiographen Frank-Lothar Kroll zum 100. Todestag am 24. April 1991 allerdings nahelegt, spielten bei dieser damnatio memoriae wohl tiefersitzende Affekte eine Rolle, die sich nicht wie üblich im Haß gegen den Militär oder den vermeintlichen Angehörigen der „ostelbischen Junkerkaste“ erschöpften. 

Großdeutsch im Einklang mit den Ideen von 1848

Es ging vielmehr gegen den „preußischen Idealtypus“, jene, wie Franz Herre („Moltke. Der Mann und sein Jahrhundert“, 1984), das Phänomen mit glücklicher Wendung traf, inkarnierte Mixtur aus „griechischer Seele und altfritzischem Geist“. Und das war ein anderes, nicht ins Schema von Umerziehung und Vergangenheit passendes Preußen, eine Synthese von Potsdam und Weimar, und als solche stets eine maximale Provokation für die auf dem „Weg nach Westen“ wandernden Bundesrepublikaner. An Herres der vielschichtigen „zivilen“ Persönlichkeit geltenden Analyse wie an die bis heute nicht überholten Standardwerke Rudolf Stadelmanns („Moltke und der Staat“, 1950) und Eberhard Kessels („Moltke“, 1957) knüpfte Kroll 1991 in seiner Gedenkrede an, die den „politischen Denker“ präsentierte, um die Grundzüge von dessen „geistiger Existenz“ zu erhellen. 

Im Gegensatz zu den altpreußischen Reichsgründern, Otto von Bismarck und Albrecht von Roon, war der nicht mehr mit Dynastien, sondern mit Völkern und Nationen kalkulierende, moderne Moltke, der seine Karriere als Kadett im dänischen Heer begann, seit den 1830ern ein überzeugter Verfechter der deutschen Einheitsidee. Offenbar weil der „auf Geistigkeit und Kultur geradezu angewiesene Offizier“ (Kroll), humanistisch gebildet, Goethezeit und technische Welt verbindend, weitgereist, sieben Sprachen beherrschend, sich früh in der deutschen Kulturnation beheimatete. Aber eingedenk Wilhelm von Humboldts Mahnung, daß nur eine nach außen hin starke Nation ihre geistige Kultur behaupten könne, richtete sich Moltkes Hoffnung, im Einklang mit den Ideen von 1848, auf den großdeutschen, preußisch-österreichisch dominierten Einheitsstaat als neue europäische Großmacht. Erst als Generalstabschef schwenkte er auf Bismarcks kleindeutsche Lösung ein. 

So nebulös wie die Gestalt des Nationalstaates sich ihm um 1860 abzeichnete, so stand doch für den rationalistischen Pragmatiker Moltke fest, Deutschland sei allein „durch Gewalt gegen Frankreich“ zu einigen. Nachdem dies 1871 erreicht, die äußere Macht etabliert war, sah sein Programm, so wie es Kroll skizziert, für die innere Reichs-einigung umfassende Sozialreformen zwecks gesellschaftlicher Integration der Arbeiterschaft vor. 

Im Geist des aufgeklärten Reformbeamtentums von 1807 habe der Generalfeldmarschall, Reichstagsabgeordnete und Humanist Moltke gegen Konservative, Liberale und Sozialisten, Gruppen-egoismen jeder Couleur, den Vorrang des „überparteilichen“, für das Allgemeinwohl sorgenden, patriarchalischen Staates vertreten. Gewiß eine Sozialutopie in der real existierenden Klassengesellschaft, doch die von ihm unterstützten Sozialreformen Bismarcks wertete Moltke als verheißungsvollen Auftakt zu deren Verwirklichung. Deshalb tut ein auf Staatsdemontage versessenes politisches Personal, das heute als Gefangener neoliberaler Nutzenmaximierungsideologie Gemeinwohlansprüche zunehmend ignoriert, vielleicht gut daran, den Politiker Moltke noch gründlicher zu vergessen als den Feldherrn.