© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/16 / 22. April 2016

Der Trainer ist nicht das Problem
SPD: Parteichef Sigmar Gabriel hat indirekt seinen Rücktritt angeboten – doch seiner Partei würde er damit kaum helfen
Paul Rosen

Nein, an ihm lägen die schlechten Umfragewerte für die SPD nicht, stellte Sigmar Gabriel mit gewohnter Selbstzufriedenheit in der vergangenen Woche vor der SPD-Bundestagsfraktion fest. Es handele sich um einen allgemeinen Trend, wurde der Parteivorsitzende zitiert. Die Volksparteien SPD und CDU würden gerade 20 Prozent ihrer Klientel verlieren. „Ich kann auch gehen“, bot der Niedersachse an. Aber selbst ein Rücktritt würde das Problem nicht mehr lösen. 

Rund 140 Jahre nach ihrem Gründungsparteitag in Gotha, nach Sozialistengesetzen, Verbot und Verfolgung im Dritten Reich, dem legendären „Godesberger Programm“ in der Nachkriegszeit und dem Aufstieg bis zur Kanzlerpartei ist die SPD am Ende, läuft ihre Zeit als Volkspartei ab. Es findet sich nicht einmal mehr ein Kanzlerkandidat, da der AfD-Erfolg die von Gabriel ersehnte rot-rot-grüne Option vorerst zerstört hat.

Nach den zwei vernichtenden Wahlniederlagen in Baden-Württemberg und in Sachsen-Anhalt am 13. März wirkte eine neue Umfrage wie ein Erdbeben: 19,5 Prozent bundesweit bescheinigte INSA den Sozialdemokraten noch. Damit sind die jahrzehntelang mickrigen bayerischen Zahlen Bundesmaßstab geworden. Und keiner weiß, wie der „Genosse Trend“, der die Sozialdemokraten in den siebziger Jahren in der alten Bundesrepublik bis in die Nähe der absoluten Mehrheit brachte, wieder zurückgeholt werden soll. An Gabriel liege es nicht, meinen viele in der SPD, wo es aber auch verdeckte Rücktrittsforderungen gibt: „Wenn es so einfach wäre, dann, ja dann könnte man relativ schnell Lösungen herbeiführen“, sagte Christine Lambrecht, die Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD. Gabriel selbst soll in der Fraktionssitzung in seiner burschikosen Art zum besten gegeben haben: „Das ist wie im Fußball. Bei abstiegsbedrohten Vereinen wird immer über den Trainer diskutiert.“ Er legte nach: „Wenn es helfen würde, träte ich zurück.“

Gemessen an den Erfolgen müßten Gabriel und die SPD trotz der zwei jüngsten Niederlagen nicht den Abstieg vor Augen haben. Neben der Bundesregierung ist die SPD an 14 Landesregierungen beteiligt. In neun Landesregierungen stellt sie den Ministerpräsidenten. In der Bundespolitik setzte die SPD mit dem seit nunmehr sechseinhalb Jahren amtierenden Vorsitzenden Gabriel alle erklärten Ziele durch: Rente mit 63, Mindestlohn, Frauenquote, Mietpreisbremse, und jetzt kommt noch das Integrationsgesetz.

Die Wähler müßten in Scharen zur SPD laufen, tun das aber nicht. Und warum das so ist, kann in der SPD niemand beantworten: „Die Frage, was wir falsch gemacht haben, haben wir uns schon hundertmal gestellt. Das zündende Gegenmittel kennt niemand“, sagt etwa Axel Schäfer, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Außer einer Rolle rückwärts fällt Gabriel nichts mehr ein: „Wir müssen unseren Anspruch erneuern, Schutzmacht der kleinen Leute zu sein – das muß unsere Antwort auf das Erstarken des Rechtspopulismus sein“, sagte er unter mäßigem Beifall auf einem Parteitag des niedersächsischen Landesverbandes in Wolfsburg.

Die Frage, warum die SPD als Partei keine Zukunft mehr hat und auf dem Weg ins Geschichtsbuch ist, wo die  katholische Zentrumspartei schon lange angekommen ist,  kann wenigstens in Teilen klar beantwortet werden: Die Milieus brechen weg. Die von Gabriel zitierten „kleinen Leute“ waren die Industriearbeiter im Ruhrgebiet und anderswo, das war der untere Mittelstand von kleinen Handwerkern, Händlern und Beamten. Diese Milieus schrumpfen stark beziehungsweise lösen sich auf. Nicht nur bei den Parteien ist das so. Die Kirchen sind genauso leer wie die Säle, in denen früher Parteiversammlungen stattfanden.

Folge der Deindustrialisierung ist auch eine Desozialdemokratisierung. Die Industrie zieht sich aus der SPD-Herzkammer Ruhrgebiet zurück. Das schlägt auf die Partei durch, die dafür ein gerüttelt Maß Mitverantwortung trägt: Wenn Opel in Schäfers Heimat Bochum geschlossen hat, liegt das vor allem auch daran, daß nach rund fünf Jahrzehnten sozialdemokratischer Bildungspolitik das Industriearbeiter-Potential nicht mehr richtig lesen und schreiben kann und von gut ausgebildeten Kollegen in Tschechien und der Slowakei übertrumpft wird. Dort produzieren heute Hersteller wie Kia. Folge der SPD-Herrschaft ist ein Verfall der Infrastruktur, Lieferanten stehen stundenlang im Stau, während in anderen Ländern schon produziert wird.

Widersprüchlich ist die SPD-Politik zudem: Wenn Gabriel vor protestierenden Stahlarbeitern, die Angst um ihre Jobs haben, von Solidarität spricht, muß man wissen, daß Wirtschaftsminister Gabriel mit der unzuverlässigen Energiewende-Politik die Schwerindustrie außer Landes treibt. Daß die Energiekonzerne am Hungertuch nagen, ist direkte Folge einer SPD-Politik gegen Kohle und Atomkraft. Im sogenannten Abgasskandal von VW überhäufen auch SPD-Politiker den Konzern mit Vorwürfen und vergessen die VW-Arbeiter, die sich den Angriffen der Klimaretter und von amerikanischen Anwälten schutzlos ausgeliefert sehen und Angst um ihre Arbeitsplätze haben. 

Potentielle Kandidaten ergreifen die Flucht  

Mit der Rentenreform hat die SPD unter Schröder Millionen Bürger in eine private Zusatzversorgung getrieben, die sich mehr und mehr als Betrug herausstellt, aber die Verkäufer dieser Riester-Rentenverträge reich gemacht hat. 

Die SPD hat sich das Wasser abgegraben. Daß Gabriels potentielle Konkurrenten um die Kanzlerkandidatur, Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz, Arbeitsministerin Andrea Nahles oder EU-Parlamentspräsident Martin Schulz die Flucht ergreifen, wenn die  Rede auf eine Kandidatur kommt, ist verständlich.  Wie die Milieus schrumpfen, wird an Zahlen deutlich: Die SPD hatte 1990 943.402 Mitglieder und Ende 2015 noch 445.534. Das Durchschnittsalter liegt bei 60 Jahren. 60jährige sind noch fit, aber in zehn Jahren dürfte die Mitgliederzahl noch bei knapp 300.000 liegen und das Durchschnittsalter auf 70 zugehen. Eine Rentnerpartei führt keine Kampagnen mehr, sondern geht selbst in Rente.