© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/16 / 15. April 2016

Studenten vermeiden das Lesen
Vom schwindenden Gewicht buchkultureller Bildung: Die Germanistik auf dem Weg zum kleinen Fach
Wolfgang Müller

Eher beiläufig, in seiner Kritik zur prekären Lage der „kleinen“, nur mit einem oder zwei Lehrstühlen pro Universität vertretenen geisteswissenschaftlichen Fächer, weist der Pharmakologe Walter Rosenthal, derzeit Präsident der Uni Jena, auf deren Marginalisierung in Japan und den USA hin. Obwohl von ihrer Gleichberechtigung beim Wettbewerb um Forschungsmittel auch in Deutschland nicht die Rede sein könne und die Geisteswissenschaften insgesamt in Eu-ropa zu Stiefkindern der Brüsseler Förderpolitik degradiert würden (JF 11/16), sei ihre Demontage noch nicht so beängstigend fortgeschritten wie in Übersee. Allein in Japan habe jüngst die Hälfte der staatlichen Universitäten auf ministeriellen Druck hin ihre geistes- und sozialwissenschaftlichen Lehrstühle „drastisch reduziert“ (Deutsche Universitäts-Zeitung, 3/2016). 

Unter dem reißerischen Titel „Angriff auf die freien Denker“ faßt Felix Lill in der Zeit (Ausgabe vom 31. März) pointiert zusammen, was sich im Zuge der Globalisierung unter dem Effizienzdiktat andernorts vollzieht: Die Universitäten in Japan, Großbritannien und den USA „verabschieden sich von ihren Geisteswissenschaften“. Im angelsächsischen Raum ist diese dem betriebswirtschaftlichen „Ideal des Messens“ und der „Praxisrelevanz“ gehorchende Wissenschaftspolitik, die seit Umsetzung der „Bologna-Reform“ auch hierzulande reüssiert, seit langem auf dem Vormarsch. 

Die Anpassungsdynamik Japans, „Heimat einer jahrtausendealten Bildungstradition“, ist hingegen neu. Asiens führende Forschungsnation sei offenbar entschlossen, wie Lill den Germanisten Keiichi Aizawa (Universität Tsukuba) zitiert, kulturellen Selbstmord zu begehen, wenn man Philosophie, Linguistik und alle anderen Geisteswissenschaften entsorge, um so eingesparte Steuergelder in die Ausbildung von Ingenieuren, Informatikern und Mathematikern zu stecken, damit das von technologisch aufholenden Schwellenländern eingekeilte Inselreich seine weltweite Spitzenposition in der Robotik behaupten könne. Dieses Ziel fordere bis 2025 von den Geisteswissenschaftlern an der nahe Tokio gelegenen Universität Tsukuba den Verzicht auf ein Fünftel ihrer Stellen. Landesweit führe solcher Kahlschlag unweigerlich zur Entwertung der japanischen Kultur und schließlich zur „Aushöhlung der Gesellschaft von innen“.

Mehr Studenten, aber deutlich weniger Lehrstühle

Doch für verschreckte bildungsbürgerliche Zeit-Leser geht Lills Geschichte gut aus. Halte man im Land der Dichter und Denker, ungeachtet zugunsten von employability, ihrer Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt, radikal „reformierter“ Studiengänge, doch fleißig dagegen. Denn geisteswissenschaftlich, so versichert der Altgermanist Peter Strohschneider, Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), habe man zwar nicht die „einzigartige Qualität des 19. Jahrhunderts“ wahren können, aber international spiele man problemlos weiterhin ganz oben mit. 

Also trotze Deutschland, wo sich die Studentenzahl in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen von 2005 (420.000) bis 2014 (500.000) sogar deutlich erhöhte, dem weltweiten „Niedergang des freien, effizienzunabhängigen Denkens“. Eine einzige Zahl aus dem DFG-Etat, von der Zeit-Redaktion subversiv eingefügt, konterkariert allerdings Lills optimistisches Fazit: 190 Millionen Euro schüttete die DFG 2014 an alle geisteswissenschaftlichen Antragsteller aus, gerade einmal so viel, wie allein auf die Physiker entfielen, während die Biologen 250 und die Mediziner 476 Millionen Euro vereinnahmten.

Auch zu den permanenten Alarmmeldungen von der deutschen geisteswissenschaftlichen Front will Lills sonnige Darstellung nicht recht passen. Jenes Dutzend Beiträger, das sich in den altehrwürdigen, im Krisen- und Inflationsjahr 1923 gegründeten Deutschen Vierteljahrschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (Heft 4/2015) zur kritischen Bestandsaufnahme speziell der früher so firmierenden Wissenschaft der „Deutschen Sprache und Literatur“ versammelt, sieht deren Zukunft jedenfalls entschieden düsterer als Lill. Vor allem der Konstanzer Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke zeichnet sein Gemälde mit kräftigen apokalyptischen Farben. Wenn auch die Zahl der Studienanfänger in der Germanistik mit etwa 80.000 auf hohem Niveau stagniere und das Fach bei Studentinnen zweitliebste Wahl sei, nehme die Attraktivität seit 2002 allmählich ab. 

Ein Trend, der nur sekundär den gesunkenen Einstellungschancen der Lehramtsstudenten geschuldet sei. Den unaufhaltsamen „Weg zum kleinen Fach“ beschreite die einstige philologische Leitwissenschaft vielmehr deshalb, weil ihr, erstens, als ein zwischen 1813 und 1871 erblühtes „nationalkulturelles Unternehmen“ in der zur Selbstauflösung disponierten Bundesrepublik die sinnstiftende Funktion abhanden käme. Das von Germanisten und Historikern wesentlich mitgeformte kollektiv Imaginäre, die gefühlte Einheit von Volk, Nation, Reich, habe sich, wie Koschorkes kürzlich verstorbener Konstanzer Kollege Gerhart von Graevenitz ergänzend konstatiert, „in Schüben desavouiert, gelockert und schließlich dissoziiert“. 

Und zweitens resultiere der Bedeutungsverlust der Germanistik aus dem Ende der Gutenberg-Ära, dem „schwindenden Gewicht buchkultureller Bildung“. Unter der imposanten Masse an Studenten finde sich heute lediglich ein kleiner Teil mit einer „Lesebiographie im klassischen Sinn“. Bei den meisten reduziere sich das Lesen von Hochliteratur auf Unvermeidbares. 

Deutsch wird zunehmend „zur ersten Fremdsprache“

Der zuletzt in den achtziger Jahren vielfach anzutreffende Typus des bibliophilen Studenten, der zwischen den Vorlesungen an Antiquariatstischen vor der Mensa stöberte, um den Grundstock seiner Bibliothek zu erwerben, sterbe aus. Zumal dessen Biotop verschwinde. Denn in Campus-Nähe fänden sich kaum mehr Buchläden, nur Cafés wie in Berkeley, wo Koschorke unter lauter Handy- und Laptop-Sklaven „so gut wie nie jemanden in einem Buch oder einer Zeitung lesen“ sah. Folglich sei allenthalben verminderter studentischer Ehrgeiz zu registrieren, sich in der eigenen Sprache gewählt auszudrücken. Was nicht verwundere, da der gymnasiale Deutschunterricht es nicht länger darauf anlege, Abiturienten beizubringen, orthographisch und syntaktisch fehlerfreie, geschweige denn stilistisch gelungene Texte abzufassen. So sei selbst für Germanistikstudenten Deutsch inzwischen zur ersten Fremdsprache geworden.

Angesichts solcher Zustände lasse sich mittelfristig eine dann arg geschrumpfte Existenz des Faches nur durch letztlich „archivarische Tätigkeit“, durch Vergegenwärtigung des reichen Erbes deutscher Literatur- und Geistesgeschichte sichern. Nur – für wen? Kaum realistischer ist, was Koschorke darüberhinaus als Überlebenskonzept skizziert, den Umbau zur „Regionalwissenschaft des deutschen Sprachraums im globalen Kontext“, die Beiträge zur „eurozentrischen Selbstkritik“ leisten sollte. 

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