© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/16 / 15. April 2016

„Die Nordafrikaner sind das Problem“
Kriminalität: Das Kottbusser Tor, Berlins traditioneller Umschlagplatz für Drogen, ist ins Gerede gekommen
Martin Voigt

Der Mannschaftswagen der Polizei fährt in Schrittgeschwindigkeit. Etwas unschlüssig beobachten die Polizisten die Szene, aber sie steigen nicht aus. Ein junger Mann im Kapuzenpulli grinst. Belustigt und doch ein bißchen nervös flackern seine blauen Augen mit den winzigen Pupillen in Richtung „Bullen“. Man kennt sich. Ein kurzer Blickwechsel, dann gibt die „Wanne“ Gas, und der junge Mann fragt: „Hey, willste mal mein Speed angucken?“ Am Kottbusser Tor, Berlins bekanntestem Dealer-Treffpunkt, läuft der Drogenhandel auch am frühen Nachmittag. Über den Köpfen rattert die U-Bahn auf eisernen Stelzen vorbei. Satellitenschüsseln hängen an den betongrauen Hochhausfassaden und aus manchem Fenster eine rote Fahne mit Halbmond.

Seit Jahrzehnten gehören Drogenhändler zum Inventar am „Kotti“, wie der Kreuzberger Verkehrsknotenpunkt genannt wird. Das Leben pulsierte hier zugedröhnt vor sich hin. Zwischen Dönerbuden, Bars und Wettbüros ist der ideale Platz, um der Stamm- und Laufkundschaft Heroin, Haschisch, Ecstasy und Koks zu verkaufen. Partygänger decken sich mit Drogen auf dem Hin- und mit Dönern für den Rückweg zu den Clubs ein. Doch dort, wo alles lange seinen Gang ging, geht es seit einiger Zeit immer ungemütlicher zu. 

Die alteingesessenen Dealer beschweren sich. „Mir ham se neulich nen Zwanni gezogen“, erzählt eine hagere Haschisch-Händlerin mittleren Alters. „Mach lieber die Tasche zu, sonst ist dein Handy weg.“ Und tatsächlich: Im vergangenen Jahr haben die Gewaltdelikte und Raubüberfälle am Kotti sprunghaft zugenommen. Die Zahl der angezeigten Raubtaten stieg von 52 im Jahr 2014 auf 80 im vergangenen Jahr. Bei den Körperverletzungen gab es laut Statistik einen Zuwachs von 49 auf 68 Fälle. Diebesbanden aus Tunesien und Marokko sollen für den Ärger verantwortlich sein, berichtete die Polizei. In den ersten drei Monaten dieses Jahres haben sich die Taschendiebstähle im Vergleich zum Vorjahreszeitraum verdoppelt.

Mustafa dealt am Kotti seitdem er Vierzehn ist: „Wir sind die, die schon immer da sind.“ Die Fingernägel des 48jährigen klappern gegen das Trafohäuschen, an dem er immer steht. Am kleinen Finger ist der Nagel lang und ausgefeilt, um ihn als Schaufel für Heroin oder Kokain zu benutzen. Eine alte Angewohnheit, wie er sagt, denn harte Sachen brauche er nicht mehr. Auf seinem Trafohäuschen drängen sich die Schnapsfläschchen. Wieder rollt ein Polizeiauto vorbei. „Wenn die wirklich mal aussteigen, dann weil sie es auf jemanden abgesehen haben“, sagt Mustafa. „Heut vormittag haben Zivilbullen ein paar Araber gefilzt.“ Als Zehnjähriger kam Mustafa mit seinen Eltern aus Palästina nach Deutschland. Der Kotti wurde seine Heimat. Seit den achtziger Jahren ziehen Passanten, Käufer und Verkäufer und die niemals abreißenden Autokolonnen an ihm vorbei. Der Kotti war alles andere als eine No-go-Area. Und jetzt? „Wenn zu viele Dealer da sind, dann streiten die sich um die Kunden, und das Theater lockt dann wieder die Polizei an. Die Nordafrikaner sind das Problem“, schimpft Mustafa. „Die sind anders.“ In Berlin sei es schon immer zur Sache gegangen, aber nicht „so auf die feige Tour, so in Gruppen und mit Antanzen“.

Viele Worte fallen nicht, wenn die Münzen in die offene Hand gezählt werden und kleine bunte Kugeln den Besitzer wechseln. Die Plastiktüten der türkischen Gemüsehändler liefern die Schutzfolie für geringste Mengen Heroin, fest verdreht zu einer Kugel. „Jeder hat so seine Farbe“, erklärt Mustafa. Die hagere Haschischhändlerin neben ihm spuckt aus. Das Obst und Gemüse am Kotti könne man übrigens komplett vergessen, sagt sie. Einmal, ein einziges Mal sei sie in der Türkei gewesen, und dort hätten die Apfelsinen geduftet, hundert Meter weit. „Hier schmeckt alles nach Wasser.“ Vor den weit ausladenden Obst- und Gemüseständen ist ein Kommen und Gehen. Zwei Frauen mit Kopftuch packen volle Einkaufstüten in ihre Kinderwagen. Auf der anderen Seite der Orangenpaletten hat man das Geschehen den ganzen Tag im Blick, aber der Händler wiegelt ab: „Isch hab schon tausendmal erzählt. Nix passiert. Die Bürgermeisterin macht nix.“

Monika Herrmann, die grüne Bezirksbürgermeisterin von Kreuzberg-Friedrichshain, die einst mit Coffeeshops den Drogenhandel eindämmen wollte, räumte ein, daß die Situation dramatisch sei. „Das kann nur die Polizei lösen“, sagte sie der Süddeutschen Zeitung. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) kündigte unlängst an, 360 zusätzliche Polizisten einzustellen. Es sei gut, daß Müller sich klar zu dieser CDU-Forderung bekenne, reagierte Innensenator und Koalitionspartner Frank Henkel (CDU). Der Grund für den Aktionismus: Im September wird in Berlin gewählt. 

Mustafa saß zehn Jahre hinter Gittern

Übers Leben verteilt saß Mustafa gute zehn Jahre hinter Gittern. Er rechnet das ganz lässig zusammen. Das Gefängnis gehört einfach dazu, wie die Zwiebeln in den Döner. Aber daß die Junkies ihre Hunde mitbringen, wo hier doch überall Glasscherben herumliegen, das regt Mustafa auf. Einer habe sich neulich die Pfote blutig geschnitten.

Brutalität und Rücksichtslosigkeit folgen im Windschatten der großen Geldströme. Partytouristen fluten jedes Wochenende die Kreuzberger Nächte. Jeder Clubbesitzer, jeder Dealer, jeder Antänzer, jede Dönerbude will etwas abhaben vom Kuchen. Die besten Plätze sind heiß begehrt. Der Vorbesitzer einer bei Tageslicht unscheinbaren Dönerbude direkt am Kotti mußte lange unter freiem Himmel Pommes verkaufen, bis er das Frittiersieb gegen den Dönerspieß tauschen und das Geschäft übernehmen konnte, schildert Mustafa seine Beobachtungen. Erst als die Fritten nur noch zur Tarnung für den Heroinverkauf dienten, kam Schwung in die Sache. Inzwischen ist die Familie zurück in der Türkei, aber die Dönerspieße drehen sich weiter, fast 24 Stunden am Tag. „Wenn du Geld hast, brauchst du Deutschland nicht unbedingt“, stellt Mustafa fest, klappert mit seinem Nagel gegen das Trafohäuschen und verabschiedet sich: „Ich dreh mal ne Runde.“