© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/16 / 15. April 2016

Trügerische Ruhe
Asylkrise: Auch wenn derzeit weniger Einwanderer nach Deutschland kommen, läßt der Druck auf die Große Koalition nicht nach
Paul Rosen

Krampfhaft versuchen Bundesregierung und Koalitionsparteien, in der Flüchtlingskrise Erfolge zu vermelden. Die Asylbewerberzahlen vom März, die aufgrund der Schließung der Balkanroute durch Österreich, Mazedonien und andere Staaten recht niedrig ausgefallen waren, wurden sogar von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) persönlich vorgestellt, was bei den früher noch höheren Zahlen Alleinaufgabe des Leiters des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Frank-Jürgen Weise, war. Im März kamen noch 20.608 Asylbewerber in Deutschland an; im November 2015 waren es über 200.000 gewesen.

Auch die anderen Aspekte der Flüchtlingskrise werden verharmlost und beschönigt. Als de Maizière in einer österreichischen Zeitschrift die Aufhebung der Grenzkontrollen zum südlichen Nachbarland Deutschlands ankündigte, ging Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer zwar auf die Palme. Das Vorhaben sei mit ihm nicht abgesprochen worden. Doch seit den drei Landtagswahlen vom 13. März versuchen CDU und CSU sich zusammenzuraufen. 

Die Griechenland-Krise kehrt zurück

Nach einem Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel war plötzlich alles wieder gut. Seehofer berichtete, eine Wiederöffnung der Grenzen werde nicht ohne Rücksprache mit Bayern erfolgen. 

Für den CSU-Vorsitzenden war das Thema damit „abgeräumt“, und auch von der bayerischen Verfassungsklage gegen die Flüchtlingspolitik ist schon länger nicht mehr geredet worden. Allerdings trugen Seehofers Reaktionen nach den Treffen in Berlin resignative Züge. Er hat gemerkt, daß Merkel Routine entwickelt hat, die Attacken des Bayern nicht besonders ernst zu nehmen. Der ist aber wie ein siamesischer Zwilling an die CDU gekettet; vom Kreuther Trennungsgeist redet schon lange keiner mehr. Den Platz rechts von der CDU besetzt heute die AfD. 

Der Dritte in der Berliner Koalitionsrunde, SPD-Chef Sigmar Gabriel, hat bereits gar nichts mehr zu melden. In zwei Bundesländern wurde seine Partei verzwergt; wären jetzt in Sachsen-Anhalt Landtagswahlen, könnte die SPD sogar an der Fünfprozenthürde scheitern. Die Besetzung der Schlüsselressorts in der Bundesregierung hat nichts gebracht, die Ernte für die sozialdemokratische Sachpolitik von der Rente ab 63 bis zum Mindestlohn konnte die SPD nicht einfahren. Gabriels Traum vom rot-rot-grünen Bündnis ist ausgeträumt. Der Erfolg der AfD hat diesen Traum platzen lassen wie eine Seifenblase. Und so fügt sich die SPD in die Große Koalition, in der auch die CSU unbedingt bleiben will. 

So redet man sich die Lage schön. Das EU-Rücknahmeübereinkommen mit der Türkei sieht vor, daß Ankara Flüchtlinge aus Griechenland zurücknehmen soll, während im Gegenzug Flüchtlinge aus der Türkei in die EU geflogen werden sollen. Daß 27 EU-Länder bisher keinen Flüchtling aus der Türkei aufnahmen, sondern nur in Deutschland ein kleines Kontingent ankam, wurde genauso unter den Teppich gekehrt wie die Wahrheit bei den Asylbewerberzahlen: Zusammengerechnet kamen im ersten Quartal 2016 180.000 Flüchtlinge an. Im Vorjahresquartal waren es 85.394 gewesen. Wenn das Wetter im Mittelmeerraum im Verlauf des Frühjahrs  besser werden wird, werden wieder mehr Flüchtlinge ankommen. Eine Hochrechnung des ersten Quartals auf das Gesamtjahr 2016 ergibt 720.000 Flüchtlinge, die trotz Schließung der Balkanroute über andere Wege zu „Mama Merkel“ kommen könnten. 

Geradezu dramatisch entwickelt sich ein Randthema für Merkel. Die Verwicklungen rund um die  drastische Satire des Kabarettisten Jan Böhmermann auf den türkischen Präsidenten Erdogan (siehe Seite 13), zeigt, daß Merkel erpreßbar geworden ist. Macht sie nicht, was Erdogan will, hält dieser in der Ägäis weitere Flüchtlingsboote nicht von der Fahrt ab. 

Selbst wenn das Flüchtlingsthema nicht mehr die Rolle wie im vergangenen Jahr spielen sollte, hat sich die Situation in Deutschland verändert: Spätestens die Ereignisse der Kölner Silvesternacht, die Politik und Presse erst verschweigen und dann herunterspielen wollten, haben auch Gutmeinenden gezeigt, daß unser Land in eine „Schieflage geraten ist“, wie der frühere CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler erklärt.  Die Schieflage findet sich nicht nur in Flüchtlingsfragen. Im vergangenen August, als der Strom über die ungesicherten Grenzen immer stärker wurde, beschloß der Bundestag das dritte Griechenland-Hilfspaket. Griechenland sei damit gerettet, hieß es damals. Längst pfeifen die Spatzen von den Dächern, daß in Griechenland nichts besser geworden ist. Ein Schuldenschnitt tut not, den Merkel ablehnen muß, weil sie sich darauf festgelegt hat, und von dem hohen Roß nicht herunterkommt. 

Parallel dazu ruiniert die Niedrigzinspolitik Lebensversicherungen, private Altersvorsorge und das Vermögen der Deutschen. Die Sparer erkennen inzwischen die Folgen, beginnen Fragen zu stellen.  Die Krisen in EU und in Berlin werden schärfer und erinnern an einen Luftballon, der immer weiter aufgeblasen wird. Bis er platzt.