© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/16 / 08. April 2016

Eine neue Alchemie leuchtet am Horizont
Der Philosoph Peter Sloterdijk will das Raumschiff Erde gegen Formen extremistischer Vernunft verteidigen
Felix Dirsch

Wieder greift ein Großintellektueller in aktuelle politische Diskurse ein. Der Alt-68er Peter Sloterdijk äußerte sich jüngst über die mannigfachen Gefahren, die die „Überrollung“ Deutschlands durch Flüchtlingsströme mit sich bringt. „Lügenpresse“ gibt er vornehm mit „Lügenäther“ wieder. Weiter fordert er ein effektives Grenzsicherungsmanagement ein.

Fernab vom operativen politischen Tagesgeschäft können seine philosophischen Überlegungen angesiedelt werden. Vorträge, die der frühere Hochschulrektor zwischen 2005 und 2014 gehalten hat, sind nunmehr unter dem Titel „Was geschah im 20. Jahrhundert?“ gesammelt erschienen. Die Beiträge sind thematisch heterogen. „Heideggers Politik“ referiert der Schriftsteller ebenso wie „Derridas Traumdeutung“ und einige philosophische Aspekte der Globalisierung. Der „Reise-Streß“ wird ebenso thematisiert wie das Grundgesetz. 

Ein wichtiger Akzent der zwölf Essays und der editorischen Notiz liegt auf der Erörterung der Voraussetzungen menschlicher Existenz. Diese wird seit dem 20. Jahrhundert mehr und mehr als naturhaft eingebettet verstanden. Neben den atmosphärischen Grundlagen humanen wie tierischen und pflanzlichen Daseins werden immer mehr solche der ozeanischen wie der unterirdischen Ressourcen offenkundig. 

Rohstoff-Expansion contra gedrosselten Energiehunger

Die Politik wird maßgeblich durch entsprechende knappe Güter (wie Öl, Kohle und Gas) beeinflußt. Sie erweist sich angesichts dieses weiten geologischen und sphärischen Blickwinkels, den Sloterdijk besonders in seinem materialreichen dreibändigen Projekt um 2000 auslotet, als abhängig von umfassenderen naturalen Parametern, die vor dem Hintergrund eines langsam verblassenden Anthropozentrismus deutlich stärker hervortreten als noch im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des folgenden Zentenniums.

Der eröffnende Aufsatz über das Anthropozän – eine Wortschöpfung des Nobelpreisträgers Paul J. Crutzen über das Zeitalter des Menschen als wichtigem Einflußfaktor auf Natur und Umwelt – weist der gesamten Publikation die Grundrichtung. Der Verfasser ordnet diesen Entwurf, der die Epoche der Gegenwart (gefaßt seit ungefähr 1800) als ein erdhistorisches Zeitalter beschreibt, das in besonderer Weise von Aktivitäten des Menschen abhängig sei, in den Zusammenhang der schon seit längerer Zeit üblichen Weltalter-Interpretationen ein, wie sie prominent etwa Max Scheler vorgenommen hat. 

Die Erdgeschichte wird in diesem Konzept von ihrem möglichen Ende aus beleuchtet, wie es häufig auch in apokalyptischen Deutungen der Fall ist. Die Auseinandersetzung um die Deutung klimatischer Zustände nimmt weltweite Gestalt an. Das allgemein als „Klimakiller“ betrachtete Kohlendioxid kann nicht einfach durch einen domestizierenden status civilis neutralisiert werden, wie der Kampf aller gegen alle im status naturalis bei Hobbes. Die zu entwerfenden minima moralia haben bei Sloterdijk die Lebensgemeinschaft von humanen wie nichthumanen Existenzen sicherzustellen. Die Erdpolitik spielt sich vornehmlich zwischen denen ab, die den Energiehunger drosseln, also eine neue Bescheidenheit herausstellen, und denen, die die herkömmliche Rohstoff-Expansion weiterführen wollen.

Dieser Ansatz wird in dem luzid-prägnanten Versuch fortgesetzt, das 20. Jahrhundert auf den Begriff zu bringen. Der Kampf um Energiequellen bestimmt das politische Geschehen auf zentrale Weise. Die zeitweise dominanten Vertreter des Totalitarismus, egal ob in seiner rechten wie linken Variante, sind nicht ohne ihren Bezug auf fossile und metallische Stoffe zu begreifen, die ihr Wohl und Wehe bedeuteten. Gegen diese Formen der „extremistischen Vernunft“ arbeitet Sloterdijk, der sich erneut als brillanter Stilist hervortut, die Relevanz besonderer Schätze heraus: der Natur, der Heimat, des Raumschiffs Erde – eine zentrale Metapher im späten 20. Jahrhundert. Im Rahmen dieser Sicht spielt auch der Versuch einer neuen Traumdeutung eine Rolle. 

Daß Sloterdijk in diesem Kontext eine neue Alchemie am Horizont aufleuchten sieht, wird denjenigen nicht überraschen, der sich schon länger mit den Denkwindungen des Philosophieprofessors beschäftigt. Zur Erklärung des Gegenwartsgeschehens eröffnen die Einlassungen des immens produktiven Gelehrten wesentliche Einsichten, wenngleich die Texte ein intensives Studium der oft idiosynkratischen Terminologie unabdingbar machen.

Peter Sloterdijk: Was geschah im 20. Jahrhundert? Unterwegs zu einer Kritik der extremistischen Vernunft. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2016, gebunden, 348 Seiten, 26,95 Euro