© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/16 / 08. April 2016

Vom Nationalstaat zum Gelände
Unser Land entgleitet uns
Jost Bauch

Wir sind Zeuge eines gewaltigen geschichtlichen und gesellschaftlichen Umbruchs. Die Globalisierung kommt zu sich selbst, sie gewinnt an Fahrt. Es globalisieren sich nicht nur die Waren-, sondern jetzt auch die Menschenströme. Der Zirkulation der Waren entspricht eine neue Wanderschaft der Menschen. Das Zeitalter der Seßhaftigkeit ist vorbei und weicht einer Zeit eines globalisierten Nomadentums.

Angesichts dieser Zeitenwende muß radikal umgedacht werden: Unsere politischen Kategorien gruppieren sich alle um die seit dem Neolithikum übliche Seßhaftigkeit, zumindest in Europa. Politik denkt immer noch in territorialen Bezügen. Politik ist Politik von und für Seßhafte, die „gebietskörperschaftliche“ Dimension in der Trias von Staatsvolk, Staatsgewalt und Staatsterritorium ist omnipräsent. Erste Anzeichen der Auflösung des Territorialprinzips gibt es in Deutschland schon länger: so die Veränderung des Staatsangehörigkeitsrechts vom „archaischen“ ius sanguinis, das auf – auch territoriale – Abstammungslinien setzte, zum ius soli, das zum Staatsbürger erklärte, wer schon länger im Land war und auch weiter bleiben wollte.

Aber das waren, wie gesagt, nur erste Anzeichen der Aufweichung des Seßhaftigkeitsprinzips. Die politische Geistesgeschichte wird mittlerweile von der Wirklichkeit überrollt. Millionen von Zuwanderern überschwemmen das Land, und ein Ende ist nicht absehbar. Welche Motive bei den Zugewanderten im Vordergrund stehen, ob Schutz vor wirklicher Verfolgung, ob Bürgerkriegsflüchtling oder Wirtschaftsflüchtling, ist eigentlich egal: Sie alle sind auf der Suche nach einem besseren Leben und glauben es in der Mitte Europas finden zu können. Und Deutschland wehrt sich, von seinem Souveränitätsrecht der Regulierung der Zuwandererströme Gebrauch zu machen – von der Auswahl bis zur Grenzschließung. Das Land mutiert so zum „open space“, zu einem offenen Territorium, wo jeder auch ohne Registrierung nach Belieben hinein und heraus kann.

Deutschland fügt sich so als erstes Land den „One World“-Phantasien der Globalisierungsbefürworter, die von einer Weltgesellschaft und einer „global governance“ träumen. Denn für die Globalisierungsbefürworter ist klar: In einer Weltgesellschaft gilt im Weltmaßstab das Freizügigkeitsprinzip. Auch die Frage des Wohnortes (und damit ebenso die Frage der Staatsangehörigkeit) ist optional. Der Mensch kann sich da niederlassen, wo es ihm gefällt. Die Weltgesellschaft ist eine „Multioptionsgesellschaft“ (Peter Gross). Die Heimat-Vorstellung des Weltbürgers wird opportunistisch: Heimat ist da, wo es ihm gut geht und es ihm gefällt, eben „Wahlheimat“. Läßt seine Zuneigung zu einer Region nach, kann er sein Ränzlein packen und weiterziehen.

Deutschland wird zum Experimentierfeld dieses neuen „Weltbürgertums“. Dieses Land ist für dieses Experiment besonders geeignet, weil es eine alteingesessene Bevölkerung hat, von der man weiß, daß sie sich gegen dieses Experiment nicht wehren kann. Der Schuldstolz des verlorenen Weltkrieges und seiner Vorgeschichte läßt die autochthone Bevölkerung wehrlos werden, sie feiert – natürlich staatlich verordnet – ihre eigene Ersetzung und populistische Marginalisierung mit „Willkommenskultur“. Ideologisch drapiert wird das Ganze allenthalben mit dem Hinweis auf den demographischen Faktor. Eine alternde und damit mittel- und langfristig sterbende Bevölkerung der Alteingesessenen braucht frisches Blut von außen. Wo soll sonst das Pflegepersonal für die vielen Altenheime herkommen?

Ein in einer ländlichen Streusiedlung lebender westfälischer Bauer ist „dickköpfiger“ und weniger steuerbar als ein versingelter Stadtmensch mit Mietwohnung, immer auf dem Sprung, die Lokalität zu wechseln, wenn das die Karriere-

chancen optimiert. 

Damit ist abzusehen, daß im Gefolge dieses demographischen Umschichtungsprozesses die alteingesessene Bevölkerung gesellschaftlich und auch territorial in die Peripherie gedrängt wird. Das Deutsche wird wieder zur Vernakulärsprache heruntergestuft, allenthalben hörbar in den Seitentälern der Eifel. Ansonsten verständigt man sich (zumindest bei den nicht ganz bildungsfernen Schichten) in einem eher schlechten Englisch.

Absehbar ist auch, daß die Bevölkerungszirkulation drastisch zunimmt. Es ist ein Kommen und Gehen. Damit wird die Gesellschaft insgesamt konturlos, die eingegangenen Sozialbeziehungen haben etwas Unverbindliches und Adhocratisches, fast wie in einer massentouristischen Perspektive. Es entsteht unter den Menschen eine zeitliche, soziale und sachliche Bindung unter Vorbehalt. Nur nicht wirklich festlegen, Multioptionalität ist nur dann wirklich gegeben, wenn man jederzeit gehen kann. Als Multiminoritätengesellschaft verdichtet sich die soziale Kommunikation natürlich innerhalb der kulturellen und ethnischen Parallelwelten. Zwischen den Parallelgesellschaften findet wenig Austausch statt, meistens in der Form von Konflikten über das jeweilige Ausmaß von politischem und gesamtgesellschaftlichem Einfluß.

Die Global Player, die diese Entwicklung antreiben, sind die Großkonzerne der globalisierten Ökonomie und deren Agenten in Politik und Massenmedien. Die Jagd nach dem großen und schnellen Profit braucht eine standortflexible Lohnarbeiterschaft, die der Spur des Geldes und der Investition auch in räumlicher Hinsicht folgt. Da viele Großunternehmen gern die Vorteile einer Region auf Zeit nutzen, die eventuellen Nebenfolgen gern externalisieren und Folgekosten sozialisieren (also auf den Staat und die Kommunen abwälzen), machen sie sich schnell aus dem Staub, bevor sich diese Folgekosten addieren: die „Detroitisierung“ einer Region. Für das Steuerzahlen sind dann die Arbeitnehmer und die mittelständische Industrie zuständig, die sehr viel seßhafter sind als die Großindustrie.

Die „Nomadisierung“ großer Teile der Bevölkerung hat so seinen ökonomischen Sinn. Eine nomadisierende, entwurzelte Bevölkerung ist dabei nicht nur für die Imperative der Ökonomie „sozio-funktional“. Insgesamt lassen sich Menschen auf Wanderschaft, wenn sie sich dann irgendwo niedergelassen haben, besser steuern und manipulieren. Die Zugewanderten sind Fremde, fremd untereinander und fremd im Aufnahmeland. Wenn man fremd ist, kennt man sich nicht so aus, man muß sich auf Erfahrungen aus „zweiter Hand“ einlassen, man wird abhängig von anderen.

Dabei ist das Fremdsein expansionistisch: Sind erst einmal genügend Fremde im Land, wird auch das eigene Land dem Einheimischen fremd. Der Begriff „Entfremdung“ bekommt hier einen neuen materiellen, unphilosophischen Sinn.

Gegenüber dem Fremden hat der Eingesessene – das kann man sehr schön bei Georg Simmel in seinem klassischen Standardwerk „Soziologie“ aus dem Jahre 1908 nachlesen – einen eigenen Willen und eigene Interessen. Je stärker sich ein Volksstamm durch seine in vielen Generationen erfolgte Arbeit in die Natur und Landschaft eingraviert hat und diese als Kulturlandschaft geprägt hat und je stärker im Gegenzug diese Arbeit an der Landschaft den Charakter des arbeitenden Menschen geformt hat, desto weniger läßt sich eine dermaßen geprägte Bevölkerung von vordergründigen gesellschaftlichen oder ökonomischen Trends oder politischer Kabale beeinflussen. Der umgebende Raum ist dann immer mehr als nur „Gelände“ oder „Gegend“ (Heidegger). Er ist mehr als „Rohstoff“ und Wirtschaftsstandort, den man nach Belieben umgestalten und vernutzen kann, so wie man heute aus der Kulturlandschaft Nordfrieslands einen einzigen Windpark macht.

Der Umgang mit der räumlichen Umwelt – und das ist durchaus auch ökologisch gemeint – hat bei Alteingesessenen etwas Demütiges, schließlich liegen über dem Land Schweiß und Blut der Ahnen. Diese räumliche Verwurzelung, die einen verantwortungsethischen Umgang mit der Umwelt ermöglicht, hat nichts mit einer nationalsozialistischen Blut-und-Boden-Ideologie zu tun, die aus der einfachen Tatsache, daß der Eingesessenheit und Heimat suchende Mensch mit seiner Landschaft verbunden ist, ein nationalistisches Pathos entwickelt hatte. Ein in einer ländlichen Streusiedlung lebender westfälischer Bauer ist „dickköpfiger“ und weniger steuerbar als ein versingelter Stadtmensch mit Mietwohnung, immer auf dem Sprung, die Lokalität zu wechseln, wenn das die Karrierechancen optimiert. Im Zeitalter des Globalismus ist Anpassungsfähigkeit und -bereitschaft gefragt, ein regionaler Traditionalismus ist da hinderlich.

Wird der Anteil der Wanderbevölkerung an der Gesamtbevölkerung zu groß, schleifen sich die traditionellen und kulturellen Eigenarten im Aufnahmeland langsam, aber sicher ab und werden durch kulturelle Versatzstücke der Einwanderer ersetzt.

 Eingesessenheit impliziert Verantwortung. Der Eingesessene bekommt die Folgen seines Handelns selbst zu spüren, deswegen gehören Eingesessenheit und Bürgerrechte zusammen. Man kann Entscheidungen am besten verantworten, wenn man von diesen Entscheidungen selbst betroffen ist. Das erhöht die Selbstreflexion ungemein. Der neue Wanderbürger ist von diesen Traditionslinien notwendigerweise abgeschnitten, er kann sie auch beim besten Willen nicht in vierwöchigen Integrationskursen inkorporieren. Seine Verbindung zum Aufnahmeland ist zwangsweise oberflächlich und künstlich, der Beziehung zum Aufnahmeland fehlt die „organische“ Verflechtung. Es fehlt, um mit Ferdinand Tönnies zu sprechen (in „Gemeinschaft und Gesellschaft“), die „Gemeinschaft des Ortes“ mit seinen sozialisierenden Effekten für den einzelnen.

Wird der Anteil der Wanderbevölkerung an der Gesamtbevölkerung zu groß, schleifen sich die traditionellen und kulturellen Eigenarten im Aufnahmeland langsam, aber sicher ab und werden durch kulturelle Versatzstücke der Einwanderer ersetzt.

Dabei tritt ein Effekt ein, den die Befürworter des Multikulturalismus nicht sehen wollen oder vielleicht auch gar nicht sehen können: Durch den Multikulturalismus werden die Menschen und deren kulturelle Derivate einheitlicher! Denn über das bunte Gemisch der Vielvölkergesellschaft bildet sich ein Teppich einer minimalistischen Einheitskultur; minimalistisch, damit jeder von dieser Kultur erreicht werden kann. Ob Kroate, Thai, Inder, Araber, Russe oder Restdeutscher, sie alle bevorzugen zunehmend Fast food und essen kulturübergreifend die gleichen Hamburger, sie sehen die gleichen Seifenopern und kleiden sich in Billigläden gleich ein. Auch wenn sie sich dagegen wehren, ihr Lebensstil wird „verwestlicht“, den öffentlichen Raum dominiert eine kulturübergreifende minimalistische Super-Massenkultur, die das Nebeneinander der Traditionskulturen möglich macht, diese aber damit notwendigerweise relativiert und ihnen zunehmend etwas Folkloristisches gibt.

Nicht nur die Kultur des Aufnahmelandes ist so in Gefahr – das ist schon schlimm und katastrophal genug –, auch die im wahrsten Sinne des Wortes „hergebrachten“ Kulturen der Zuwanderer geraten so untereinander und in bezug auf die neue universalistische Einheitskultur langfristig unter Druck.

Wahrscheinlich ist auch das von den Globalisierungsapologeten so gewollt. Denn wenn sich die traditionellen Kulturräume abschleifen und gegenseitig in Schach halten, nur dann hat die „One World“-Kultur des Globalismus eine Chance, sich weiter weltweit durchzusetzen. Dazu müssen die Räume, die früher durch intakte Nationalstaaten geschützt waren, geöffnet und die Menschenmassen bewegt werden. Dem ökonomischen Imperativ folgen nur relativ bindungslose, entwurzelte Menschen, Heimatlosigkeit wird so zu einem Allgemeinzustand.

Heimaterfahrung dagegen macht rebellisch gegen untragbare gesellschaftliche Verhältnisse, wie sie zunehmend auch in diesem Land herrschen. Der privilegierte, mit Heimaterfahrung ausgestattete Mensch ist eben nur begrenzt disponibel, er hat noch eine Ahnung von Freiheit und Selbständigkeit. Die Heimaterfahrung, so formulierte es Theodor W. Adorno in seiner konservativen Spätphase, rebelliert gegen die „Verdinglichung der Welt als Erinnerungsspur der Freiheit in der Geborgenheit einer zugewandten Welt“. Wir müssen aufpassen, daß aus dem Gelände keine Wüste wird.






Prof. Dr. Jost Bauch, Jahrgang 1949, lehrte Medizinsoziologie an der Universität Konstanz. Er ist Vizepräsident des Studienzentrums Weikersheim. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die solidarische Krankenversicherung („Vor dem Kollaps“, JF 30/15).

Foto: Globalisierte Menschenströme in der „Weltgesellschaft“: Durch die Bevölkerungszirkulation, das ständige Kommen und Gehen, wird die Gesellschaft insgesamt konturlos, und die eingegangenen Sozialbeziehungen bleiben unverbindlich und unter Vorbehalt