© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/16 / 08. April 2016

Mit Toleranz den Haß überwinden
Jordanien: König Abdullah II. kämpft um die Deutungshoheit des Islam / Muslime auf Werte wie Frieden, Freiheit und Respekt verpflichten
Volker Keller

Wer bestimmt eigentlich, was Islam ist und was nicht? Die altehrwürdige Al-Azhar Universität in Kairo? Der Revolutionsführer von Teheran? Oder der IS-„Kalif“ Abu Bakr al-Bagdadi? Jedesmal würde ein anderes Ergebnis herauskommen. Die Frage wirft ein Problem auf, weil der Islam keine absolute Autorität wie Papst oder Dalai Lama kennt, jedoch immer wieder herausgefordert ist, zu definieren, wie er von allen Muslimen zu verstehen sein soll und wie nicht. 

Immer wieder trat in jüngster Zeit eine informelle Gruppe von höchsten Würdenträgern zusammen auf und reagierte öffentlich auf Verzeichnungen des Islam von außen und innen mit einer Richtigstellung theologischer Unrichtigkeiten. Das war so 2006 nach der Rede von Papst Benedikt XVI. in Regensburg. 38 prominente Gelehrte aus vielen Regionen der Welt schrieben einen offenen Brief an den Papst und teilten mit, daß sie ihm „einige Fehler aufzeigen“ müßten. 

Mit einem scharfen Rechtsgutachten  gingen 120 Theologen 2014 mit der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) ins Gericht  und wiesen ihr Unkenntnis und Illegitimität nach. Zu den Unterzeichnern gehört der oberste Rechtsgelehrte Jordaniens und Berater von König Abdullah II., Sheikh Izz-Edine Al-Khatib Al Tamimi. Bereits 2004 hatte er im Auftrag des jordanischen Herrschers mit 23 weiteren renommierten Gelehrten die „Amman Message“ (Amman Botschaft) ausgearbeitet und den Text im Namen des Königs als Darstellung des offiziellen Islam Jordaniens und damit für Muslime in aller Welt als verbindlich veröffentlicht. 

Seitdem verpaßt Abdullah II. bei seinen Auslandsreisen keine Gelegenheit, mittels der „Botschaft“ über den wahren Islam aufzuklären, sei es im Nahen Osten, in New York, in Bangkok oder  in Amsterdam. Mittlerweile ist der Text von 522 religiösen und politischen Würdenträgern unterzeichnet worden und hat Gewicht in der islamischen Welt.

 Zuletzt nutzte der König 2015 das Forum der Generalversammlung der Vereinten Nationen, um auf Grundlage der „Amman Message“ den Terror des Islamischen Staates zu verurteilen und sein Land, umgeben von Gewalt und Zerfall, klar zu positionieren: „Jordanien ist stolz, mit ihren Ländern zusammenzuarbeiten, um globale Initiativen für Toleranz und Dialog zu fördern.“ Diese Werte seien reflektiert in der „Amman Message“, der es um eine  gemeinsame Welt gehe.

Christen sind im Parlament überrepräsentiert

Der Appell der Botschaft richtet sich nach innen, an die Muslime, und nach außen, an die nichtislamische Welt. Die Muslime werden auf die Werte Frieden, Freiheit, Toleranz und Respekt verpflichtet und zur Einheit gerufen, vor Sympathie für Extremismus werden sie gewarnt; Nichtmuslime sollen erkennen, daß die im Westen umstrittene Religion  nicht für „Kampf der Zivilisationen“ steht, sondern für Dialog der Zivilisationen und Koexistenz. 

Die „Amman Message“ vertritt islamischen Humanismus: „Was Menschlichkeit ausmacht“, so faßte Abdullah II.  den Inhalt in einer Rede vor Studenten in Bangkok zusammen. Gleichzeitig warnte er in derselben Rede jordanische Islamisten und drohte ihnen mit der konsequenten und harten Hand des Staates. Die Muslimbruderschaft wußte sich angesprochen und reagierte nach der Rede mit einer Loyalitätsbekundung. Keine Toleranz der Intoleranz – die Botschaft wurde verstanden. 

Abdullah II. ist zwar kein Islamgelehrter, kein Groß-Ayatollah wie sein Nachbar im Iran, Revolutionsführer Khamenei, aber er hat dennoch Rang und Namen in der islamischen Welt – er stammt aus dem Stamm der Haschemiten. 

Diese Dynastie kann sich in ihrer Abstammung zurückführen auf Hasan, den Sohn von Fatima, der Tochter des Propheten Mohammed, und Ali, einen Cousin Mohammeds. Als Nachfahren des Propheten übten die Haschemiten zwischen dem 10. Jahrhundert und dem 20. Jahrhundert als Großscharife das Amt der Wächter der heiligen Stätten von Mekka und Medina aus. An ihre Stelle setzte sich ab 1932  der Herrscher  von Saudi-Arabien, aber der frühere Glanz, die alte Ehre umstrahlt auch noch Abdullah II., verleiht ihm politische Legitimität und läßt ihn den wahren Islam verkünden. 

Glaubwürdigkeit als ein Protagonist für liberale und humane Werte gewinnt er dadurch, daß in seinem Land tatsächlich Koexistenz von Muslimen und Christen praktiziert wird. Die Christen stellen nur drei Prozent der Bevölkerung. Durch königliche Ernennungen sind sie im Parlament überrepräsentiert. Die Kirchen betreiben Kindergärten, Schulen und eine Universität, sie weisen einen hohen Bildungsstand auf und stehen loyal zum König. 

Regelmäßig finden in Amman muslimisch-christliche Religionsdialoge statt. Papst Franziskus dankte Abdullah II. auf seiner Nahostreise 2014: Der Monarch nehme eine „Führungsrolle“ wahr, wenn es darum gehe, ein „angemessenes Verständnis der vom Islam verkündeten Tugenden und eines friedvollen Zusammenlebens unter den Anhängern der verschiedenen Religionen zu fördern“. 

Auch innerhalb der islamischen Gemeinschaft tritt der König für Entspannung zwischen den Fronten ein, indem er die Muslimbruderschaft als Wohlfahrtsorganisation, die Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser führt, anerkennt. Schon sein Vater, König Hussein, tat sich mit politischer Deeskalation und Appeasement hervor. Nachdem er den Anspruch auf das israelisch besetzte Westjordanland aufgegeben hatte, war der Weg 1993 frei für einen Friedensvertrag mit dem westlichen Nachbarn.

Die „Amman Message“ spricht Muslime emotional bei ihrer verwundeten Ehre an. Sie litten darunter, daß die arabische Nation nur in Geschichtsbüchern existiert, Spaltung, Marginalisierung, Isolation und Schwäche kennzeichneten die Gegenwart. Doch es gebe Grund zur Hoffnung: Der Islam habe die Kraft zum Fortschritt, zu Modernisierung durch Wissenschaft, Technologie und humane Ethik – aber nur, wenn die muslimischen Länder und Denominationen „Brüderschaft“ lebten. Wiedergeburt durch Einheit!

In der Tat erschrecken sich moderate Muslime über den Zustand ihrer Religion: Kampf bis aufs Blut zwischen Sunniten und Schiiten, Verfolgung von Sufi-Mystikern und Apostaten durch Orthodoxe, Todesfeindschaft muslimischer Länder (Iran – Saudi Arabien),  mangelhafte Solidarität gerade reicher Länder mit muslimischen Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak und dann auch noch die Heiligen Krieger. 

König Abdullah scheut keine europäischen Werte

Abdullah hat keinen Zweifel, daß die Erschrockenen die Mehrheit der 1,2 Milliarden Muslime weltweit sind. Wir schaffen das, ermutigt der König, wenn sich die humane Kraft des Islam entfaltet, die die Fähigkeiten des einzelnen stark macht und Antrieb des Fortschritts werden könnte. Der König scheut keine Rezeption europäischer Zentralbegriffe wie den der „Würde“ und  des „Individuums“, das Rechte habe. Darin liege die Chance. Unterdrückung und Gewalt dagegen zerstörten die arabische Nation. Demokratie erwähnt der Monarch allerdings nicht.

Dennoch finden in Jordanien Wahlen zum Unterhaus statt, Abgeordnete können ihre Meinung freier äußern als in islamischen Nachbarländern und Parteien gründen. Aber über ihnen thront abgehoben der König, der unantastbar ist und jederzeit in die Entscheidungen des Parlaments und der Regierung eingreifen kann, wenn sie ihm nicht paßt, entweder per Veto oder mit Auflösung beider Institutionen. In der parlaments- freien Zeit kann er Gesetze erlassen. Er betont in der „Amman Message“ lediglich die Wichtigkeit von  „Beratung“, die konsequente Umsetzung seines liberalen Denkens scheut er noch – Demokratie zu wagen.

Abdullah II. nimmt jedoch nicht die in islamischen Ländern verbreiteten einfachen Erklärungen des mangelhaften Ist-Zustandes auf, entweder der Westen sei dafür verantwortlich oder man habe nur ungenügend auf Allah gehört, sondern spricht das Versagen der muslimischen Welt an. Ebenso fordert er den Westen auf, ehrlich zu sein und nicht in der Weise zu vereinfachen, daß man den islamischen Ländern alles Übel  zuschreibt und sich selbst freispricht: „Extremismus und Fanatismus sind keine Eigenschaften, die nur eine Nation charakterisieren, sondern alle Nationen, Rassen und Religionen machen damit ihre Erfahrungen.“

Immer wieder wird in der muslimischen Welt auf folgende Geschichtsschreibung verwiesen: Als im Iran Mohammad Mossadegh zum Premier gewählt wurde und die Gewinnbeteiligung des Iran an der Ausbeutung des iranischen Öls durch die britischen Ölgesellschaften von 20 auf 50 Prozent erhöhen wollte, hätten ihn die Geheimdienste der USA und Großbritanniens gestürzt und Reza Schah Pahlawi zur uneingeschränkten Macht verholfen. In der Folge einer gewaltsamen Verwestlichung des Landes, sei es dann zur Revolution durch Ayatollah Khomeini und zur Gründung der diktatorischen Iranischen Republik gekommen. Um die Macht des Iran einzudämmen, habe der Westen Saddam Hussein im achtjährigen grausamen Krieg gegen seinen Nachbarn gestärkt. Als Saddam zu mächtig wurde, hätten die Verbündeten Krieg gegen ihn geführt, Saddam getötet und das Land dem Bürgerkrieg ausgeliefert. Im irakischen Chaos seien die Terrorgruppen al-Qaida und der IS entstanden.

Westlichen Feindbildern von der arabischen Religion als auch dem militanten Islam setzt die „Amman Message“ das Konzept eines humanen Islam entgegen. Als Grundlage dient das erste im Text verwendete Koranzitat: „Menschheit! Wir haben euch geschaffen, indem wir euch von einem männlichen und weiblichen Wesen abstammen ließen, und wir haben euch zu Stämmen und Völkern gemacht, damit ihr euch untereinander kennen sollt“ (Sure 49,13).