© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/16 / 01. April 2016

Trauma junger Flüchtlinge
Schicksal von Kriegswaisen in Sachsen-Anhalt
Bernhard Knapstein

Von den toten Pferden, die seit dem Winter auf der Straße liegen, schneiden die Mädchen Fell ab, kochen es über offenem Feuer weich und lutschen es aus.“ Der Hungertod ereilt die Schwächsten zuerst. Es sind die Kinder, die am stärksten unter den Folgen des Krieges leiden. Besonders dramatisch ist es, wenn erst der Vater im Krieg fällt oder in jahrelanger Kriegsgefangenschaft ausharren muß und dann auch die Mutter umkommt oder verschleppt wird und traumatisierte Kinder allein zurückbleiben. 

Unter dem Titel „Ich suche eine neue Mutti“ hat sich Autorin Bettina Fügemann mit deutschen Kindern als Vertreibungsopfern befaßt, die 1945 und in den Folgejahren speziell nach Sachsen-Anhalt gelangten. Es waren vor allem Kinder aus Ostpreußen, wo sich die Zivilbevölkerung einer rachedurstigen und aufgehetzten Roten Armee als erstes ausgesetzt sah. Viele Frauen wurden vergewaltigt und ermordet oder kamen bei den Strapazen der Flucht im eisigen Januar und Februar 1945 um. Oft wurden Familien bei der überstürzten Flucht schlicht voneinander getrennt. Zurück blieben Kinder, die in Ostpreußen umherstreunten und sich in den Ruinen der Städte oder den geplünderten Dörfern und Gütern durchschlagen mußten und ohne Nahrung und Obdach vielfach zugrunde gingen. Der Hungerwinter 1946/47 tat ein übriges. Als „Wolfskinder“, so wie Dieter Gröning oder Lieselotte Bartels, zogen sie schließlich aus dem entvölkerten Totenland am Pregel ins nördliche Litauen, um zu betteln oder auf den Höfen zu arbeiten, nur um zu überleben. 

Im Mai 1947 erreichten die ersten Waisen aus dem nun unter russischer Verwaltung stehenden Teil Ostpreußens die Sowjetische Besatzungszone. Bis 1948 füllten sich allein in Sachsen-Anhalt 113 Kinderheime. Mit der Integration der Flüchtlingskinder in die sozialistische Gesellschaft, wo aus den Ostprovinzen geflüchtete oder vertriebene Deutsche nur als „Umsiedler“ bezeichnet wurden, erfolgte – anders als im Westen – auch die öffentliche Verdrängung ihrer Herkunft. Bettina Fügemann hat mehrere Schicksalsberichte dieser traumatisierten Kinder erfaßt und publiziert: eine wertvolle und wichtige Dokumentation unserer Nachkriegsgeschichte.

Bettina Fügemann: Ich suche eine neue Mutti. Kinder in Sachsen-Anhalt als Opfer der Vertreibung 1945–1951. MItteldeutscher Verlag, Halle/Saale 2015, broschiert, 96 Seiten, 9,95 Euro