© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/16 / 01. April 2016

Auf der Suche nach Zugehörigkeit
Im dunkelbunten Flackern der Disko-Scheinwerfer: Savina Dellicours Film „Alle Katzen sind grau“ zeigt die Grenzen der Selbstbestimmung auf
Sebastian Hennig

Der belgische Spielfilm „Alle Katzen sind grau“ setzt in einer nervösen künstlichen Dämmerung ein. In Zeitlupe bewegen sich die Tanzenden durch das ungewisse dunkel-bunte Flackern der Disko-Scheinwerfer. Stückweise tauchen sie auf und wieder weg, in eine wabernde Suppe aus verschmutztem Licht. Mit visuellen Mitteln wird die Entortung durch die elektronische Maschinenmusik dargestellt. Das Repetieren der Klänge und die wirre Mischung aller Farbtöne läßt jede Strahlkraft in buntem Grau verenden.

Keine Figur bleibt als Person faßbar. Eine junge Frau im Trachtenkleid und mit blonder Perücke rückt schemenhaft immer wieder in den Blick. Hier ist der Quellgrund der Verwirrung, aus dem sich die Handlung des Films zu einer Schicksalsparabel rundet, die klassisch nach Art einer italienischen Renaissance-novelle oder einer Geschichte aus Tausendundeiner Nacht gebaut ist. Wer seinem Verhängnis flieht, der rennt ihm geradewegs in die Arme.

Der Privatdetektiv Paul (Bouli Lanners) ist Ende Vierzig, könnte aber auch als verwilderter Mittsechziger durchgehen. Wie er es hat schleifen lassen, so hat ihn das Leben mitgeschleift. Er haust mit den Möbeln seiner verstorbenen Eltern. Mit einem hellblau-geblümten Morgenrock angetan bereitet er in der Küche ein eigenbrötlerisches Morgenmahl. Sein Dasein fristet er damit, fremde Leben auszuforschen. Aus den Trümmern des eigenen ragt ihm als einzige haltbare Hinterlassenschaft eine Tochter hervor, an der er seine Vaterrechte nach der Geburt vor fünfzehn Jahren abgegeben hatte.

Die Mutter Christine (Anna Coesens) droht ihm nun, die Polizei einzuschalten, sollte er sich Dorothy (Manon Capelle) annähern. Denn sie leben heute in äußerlich wohlgeordneten Verhältnissen. Das Ehepaar hat ein weiteres Kind bekommen. Gewissenhaft und aufmerksam bewältigen sie das Familien- und Berufsleben.

Dorothy aber verspürt die Ungleichbehandlung gegenüber dem geliebten Nesthäkchen. Die dumpfe Ahnung steigt in ihr auf, daß Papa möglicherweise nicht ihr wahrer Erzeuger sein könnte. Ausgerechnet Paul bittet sie schließlich darum, ihren unbekannten Vater ausfindig zu machen, der er ja glaubt zu sein. Den Anfang dieses verwirrenden Spiels hat er selbst gemacht, als er seine Tochter vom Auto aus observierte. Wie er da vom Rande des Geschehens zum Skaterpark herüberspäht, verdächtigen ihn die jungen Leute pädophiler Neigungen. Er redet sich mit seiner Profession heraus und überreicht zum Beweis die Visitenkarte. Bald danach steht Dorothy mit einer Freundin vor seiner Tür.

Die Geschichte spielt in Brüssel, wo die Regisseurin Savina Dellicour aufgewachsen ist. Sie wollte die Fabel durch ein realistisch nachvollziehbares Umfeld glaubhaft machen. Eine lange nächtliche Kamerafahrt gleitet durch die Ödnis der Vorstadt. Hecken, Zäune und Häuserwände reihen sich unter dem Laternenschein endlos aneinander. Kein Mensch ist auf der Straße zu sehen. Beim Abendbrot sitzt sich die Familie an einem riesigen Tisch gegenüber. Man ist zusammen und kommt doch nicht zusammen.

Mit Sorgfalt hat Dellicour die Darsteller ihre Glaubwürdigkeit erobern lassen: „Beim Proben nutze ich Improvisationen über die Szenen, um die Charaktere zu entwickeln und ihre Beziehungen zu ergründen. Das ist meine Art, Authentizität aufkommen zu lassen gegenüber dem Künstlichen, das letztlich ein Drehbuch oder die Realisation eines Films immer haben.“ Die Darstellerin der Dorothy ist als einzige keine professionelle Schauspielerin. Aus dreihundert Mädchen wurde sie herausgesiebt. Das trotzige Mißtrauen und die Suche nach Zugehörigkeit bringt sie mit der ganzen Gestalt zum Ausdruck. Intuitiv spürt das Mädchen aus den Details die biographischen Fehlstellen heraus. Auf den Fotos ihrer ersten Lebensjahre ist der Vater nie zu erblicken. Warum? Weil der fotografiert habe, behauptet ihre Mutter. Der Detektiv befragt zuletzt das moderne Orakel der Laboranalyse, und mit Hilfe der höchsten technischen Präzision wird das Unwissen zur letzten Gewißheit erhoben.

Erst das verblüffende Ergebnis errettet den Film endgültig aus der Gefahr der Banalität. Die Pointe ist es wert, die 85 Minuten durchzuhalten. Zudem trägt auch die gewissenhafte schauspielerische Einübung in die facettenreichen Figuren in den Filmszenen ihre Früchte. Wie der Titel „Alle Katzen sind grau“ bereits suggeriert, kommen holzschnitt-artige Schwarzweiß-Charaktere nicht vor. Niemand wird in seinem Elend herausgestellt. Jeder Person widerfährt Gerechtigkeit in ihrer Abirrung und Ahnungslosigkeit. Der Zuschauer erhält keine Gelegenheit, sich ihnen gegenüber zum Pharisäer aufzuschwingen.

In dem Maße, in dem die biologische Bindung an den Fakten scheitert, keimt aus der zweckgebundenen Gemeinsamkeit zwischen dem Mann und dem Mädchen eine neue Verbundenheit. Zuletzt hat die ihrer selbst ungewisse Dorothy den einsamen Paul ohne jede Sentimentalität als väterliche Figur gleichsam adoptiert. Der Film trifft bedenkenswerte Aussagen über die wechselseitige Spannung, die sich zwischen Handlungsfreiheit und Verantwortung, Selbstbestimmung und Notwendigkeit ergibt.