© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/16 / 25. März 2016

Im Schatten der Gießerei
Vor 500 Jahren führte Venedig erstmals die Residenzpflicht für Juden in abgeschirmten Ghettos ein
Wolfgang Kaufmann

Juden waren in Venedig bereits seit dem 5. oder 6. Jahrhundert ansässig und konzentrierten sich dann zum Ausgang des Mittelalters an verschiedenen Stellen der Stadt wie dem Fondaco dei Tedeschi, wo die aschkenasischen Händler deutscher Herkunft residierten. Dabei nahm die Bevölkerungszahl in diesen Quartieren kontinuierlich zu. 

Das resultierte zum einen aus den Judenverfolgungen im übrigen Europa aufgrund der großen Pestepidemie von 1347 bis 1353 sowie den späteren Massenausweisungen von Sephardim aus Spanien und Portugal im Nachgang zur Reconquista, zum anderen handelte es sich hier um eine beabsichtigte Konsequenz venezianischer Wirtschaftspolitik: Weil der Stadtstaat wegen seiner fortwährenden Kriege immer mehr in finanzielle Bedrängnis geriet, erteilte er den Juden die Erlaubnis, sich in Venedig niederzulassen und Leihhäuser (Banchi) zu betreiben, was eine Steigerung des Steueraufkommens garantierte – darüber hinaus konnte die hochverschuldete „Allerdurchlauchteste Republik des Heiligen Markus“ den Zuwanderern aber auch Zwangsdarlehen zu unvergleichlich günstigen Konditionen abpressen. 

Allerdings befürchtete man wegen dieser „toleranten“ Verfahrensweise den Zorn Roms, weshalb die Stadtväter vorsorglich ein Gutachten bei Kardinal Basilius Bessarion einholten, welches bestätigte, daß keine Gefahr für das Seelenheil von Christen bestünde, wenn Juden unter ihnen lebten.

Trotzdem freilich kam es bald zu erheblichen Spannungen zwischen den alteingesessenen Bürgern und ihren neuen Nachbarn, die durch behördliche Schikanen noch verschärft wurden: Unter anderem mußten die Juden ein gelbes Zeichen an ihrer Kleidung tragen, wenn sie das Haus verließen. Um die immer explosiver werdende Situation zu entschärfen, beschloß der Senat von Venedig mit 130 zu 44 Stimmen, eine rigide räumliche Segregation zwischen Juden und Christen vorzunehmen. Anschließend ordnete der Doge Leonardo Loredan am 29. März 1516 an, sämtliche Juden auf die ein Hektar große Insel Gheto Novo im Stadtteil Sestiere Cannaregio nördlich des Canale Grande umzusiedeln.

Das kleine, fünfeckige Eiland hatte bislang als Arsenal sowie Mülldeponie für die vierzehn Kanonenrohrmanufakturen auf der Nachbarinsel San Leonardo gedient – daher auch der Name, welcher sich von „Geto“ (Gießerei) ableitete. Aus der Sicht der Republikführung bestand der Vorteil von Gheto Novo vor allem darin, daß es komplett ummauert und nur über zwei kleinere Brücken zu erreichen war. Die Juden sollten nämlich unbedingt daran gehindert werden, nachts in der übrigen Stadt „umherzustreunen“. Und das war durch eine Sperrung der beiden Zugänge zwischen 24 Uhr und dem morgendlichen Geläut der großen Glocke des Campanile di San Marco problemlos möglich. Dennoch barg die Zwangsumsiedlung mit nachfolgender Teil-Ausgangssperre und Residenzpflicht auch Vorteile für die Juden: So erschwerte die isolierte Lage Übergriffe ganz erheblich; zudem war ein weitgehend ungestörtes religiöses und soziales Leben möglich, obgleich die Inselbewohner nun Mieten zahlen mußten, welche das Ortsübliche um ein Drittel überstiegen.

Einrichtung des Ghettos machte in Europa Schule

Diese venezianische „Lösung des Judenproblems“ machte bald in weiten Teilen Europas Schule, wobei man die den Juden zugewiesenen, ummauerten sowie temporär abgeriegelten Stadtviertel zumeist ebenfalls „Geto“ oder „Ghetto“ nannte. Das geht beispielsweise aus einer Bulle von Papst Pius IV. aus dem Jahre 1562 hervor. Dabei waren die anderen Ghettos, wie das von Worms, aber nicht mit Gheto Novo vergleichbar: Sie befanden sich auf keiner geschützten Insel, sondern lagen weit besser zugänglich innerhalb der Stadtmauern. Außerdem genossen die Juden in Venedig aufgrund ihrer bilateralen Verträge mit der Republik eine für damalige Verhältnisse bemerkenswerte Rechtssicherheit. 

Wegen des äußerst beschränkten Platzangebotes auf Gheto Novo entstanden dort sogenannte Case torri (Turmhäuser) mit bis zu acht Etagen bei sehr niedriger Zimmerhöhe. Ungeachtet dessen wurde es schnell unerträglich eng, zumal nun noch verstärkt sephardische Juden aus der Levante in die Metropole an der Adria drängten. 

Aus diesem Grunde richtete die Stadt 1541 ein zweites Ghetto auf San Leonardo ein, welches direkt auf dem früheren Gießereigelände lag und deshalb irreführenderweise Gheto Vecchio („Altes Ghetto“) genannt wurde. Das Areal gehörte damals dem Adligen Leonardo Minotto, der sich von der Umwidmung seiner heruntergekommenen Immobilie sehr viel höhere Mieteinnahmen versprach, die er dann tatsächlich auch erzielen konnte, wobei in dem neuen Judenviertel jetzt weniger die Leihhäuser als Geschäfte und Handelskontore dominierten.

Doch damit nicht genug: In den Jahren ab 1589 kam es zu einem weiteren Zustrom von Juden, und zwar jetzt vor allem von solchen, die aus dem Orient oder Mitteleuropa geflohen waren. Hieraus resultierte 1633 die nächste große Erweiterung des venezianischen Ghettos durch die Schaffung des Gheto Novissimo im Osten von San Leonardo. Dadurch stieg die Bevölkerungszahl in den drei jüdischen Quartieren auf über 5.000, wobei dann aber schon wenige Jahrzehnte später eine massive Abwanderung einsetzte. Diese war die Folge der immer drückenderen Steuerlasten aufgrund der erneut höchst prekären finanziellen Lage der Republik sowie auch Reaktion auf das Aufflammen eines militanten Antisemitismus, den man in Venedig bisher so nicht gekannt hatte.

Die Zeit des Ghettos auf den Inseln Gheto Novo und San Leonardo endete jedoch trotzdem erst 1797, als Napoleon Venedig einnahm und anschließend die Residenzpflicht für Juden aufhob.