© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/16 / 25. März 2016

Pankraz,
Ch. de Gaulle und das trocknende Blut

Erinnert sich noch jemand an Susan Sontag, die 2004 im Alter von 71 Jahren verstorbene New Yorker Kunstkritikerin? Susan war höchst vielseitig, einfallsreich und formulierungsstark, man könnte viel aus ihren Essays lernen, aber die gutmenschlichen Meinungsaufseher unserer Tage haben eine damnatio memoriae, eine Art Schweigegebot über sie verhängt. Denn sie hat ja auch Leni Riefenstahl gelobt und seinerzeit den originellen Hitler-Film von Hans-Jürgen Syberberg positiv besprochen. In die Hölle des Vergessens mit ihr!

Jetzt hat ihr Sohn David Rieff (63), der seit Jahren die hochinteressanten nachgelassenen Tagebücher seiner Mutter herausgibt und sich damit viel Kritik eingehandelt hat, im Londoner Guardian eine grundsätzliche Betrachtung über das Verhältnis von historischer Erinnerung und Vergessen publiziert, die zu mancherlei Diskurs Anlaß gibt. Ausgangspunkt sind für Rieff die aktuellen Kriege und Grausamkeiten im Nahen Osten und in Afrika, die kein Ende nehmen wollen und sich ganz überwiegend aus erinnerndem Haß speisen.

„Erinnerung ist ein Verbündeter der Gerechtigkeit“, schreibt Rieff, „aber kein Verbündeter des Friedens. Es gibt Fälle, in denen das Vergessen der Vergangenheit unrecht tut. Doch wenn das kollektive Gedächtnis Gemeinschaften dazu verurteilt, den Schmerz historischer Wunden und die Bitterkeit historischen Grolls zu verewigen, sollte nicht die Pflicht zu erinnern hochgehalten werden, sondern die Pflicht zu vergessen. Kann man mit Bestimmtheit sagen, was in welchen Situationen besser wäre? Nein, darauf gibt es keine kategorische Antwort.“


Aber „angesichts der menschlichen Neigung zur Aggression“, fährt Rieff fort, „könnte das Vergessen, bei allen damit verbundenen Opfern, die einzig verbleibende notwendige Reaktion sein (…) Es gibt so manches Beispiel in der Geschichte, in dem das Vergessen früher Oberhand gewann, als vernünftigerweise erwartet werden konnte. Als etwa General de Gaulle in seinem berühmten Umschwung beschloß, daß Frankreich Algeriens Unabhängigkeit anerkennen würde, soll einer seiner Berater mit dem Ausruf protestiert haben: ‘Es wurde doch so viel Blut vergossen!’, woraufhin Charles de Gaulle antwortete: ‘Nichts trocknet schneller als Blut’.“

Indes, trocknet Blut, Opferblut, Kriegerblut, Völkerblut, wirklich schneller als alles andere? Daran darf man zweifeln. Das Gedächtnis der Völker währt lange, ist für sie geradezu existenzerhaltend, wie für einen von Demenz bedrohten Einzelmenschen die Erhaltung des eigenen individuellen Erinnerungsvermögens. Schlichtes Vergessen, bewußtes Wegschieben-Wollen schlimmer, unangenehmer oder auch positiver, den Geist befeuernder Erinnerungen bringt nichts, es vertieft die Misere nur, führt zu kultureller Dekadenz und macht politisch angreifbar.

Doch vielleicht hilft hier ein Blick auf das Werk des Philosophen Hegel, der in seiner „Phänomenologie des Geistes“ geschrieben hat, daß dauerhafte, friedenstiftende Erinnerung nur möglich sei, indem man sie „aufhebt“, und zwar im dreifachen Sinne des Wortes. „Aufheben“ bedeutet erstens, daß man eine Sache vom Boden, auf dem sie liegt, wegnimmt und in eine höhere Position bringt, zweitens, daß man sie in ein Behältnis legt und sie so vor dem Verschwinden bewahrt, drittens, daß man sie historisch macht, sie mit Gelassenheit betrachtet und einer gediegenen Forschung sine ira et studio überantwortet.

Nur in solcher Aufhebung, sagt Hegel, kann Erinnerung alt werden und Menschen zueinander bringen. Läßt man sie hingegen als Verkehrshindernis auf dem Boden liegen, so kann es gar nicht ausbleiben, daß sie beschmutzt und in den Zank der Leidenschaften hineingezogen wird, ganz einerlei, ob es sich um eine positive oder um eine negative Erinnerung handelt. Was dem einen seine Eule, ist dem anderen bekanntlich seine Nachtigall, was dem einen seine Heldentat, ist dem anderen seine Schande.

 

Historiker und Politiker, die nicht aufheben, sondern liegen lassen wollen, verkümmern schnell zu bloßen Funktionalisierern. Entweder mausern sie sich zu Geschäftsleuten, die für sich einen bestimmten finanziellen Nutzen aus der Erinnerung ziehen, oder zu „Priestern“ (D. Schwanitz), die einen Altar errichten, auf dem man Opfer zelebrieren und vor dem man sich in den Staub werfen soll. Die Erinnerung wird zum Mythos, aus dem sich angeblich alles herleitet und aus dem man seine Riten bezieht. Ist sie eine schändliche, so stiftet sie negative Religion, Satanskult, der mit der Zeit eine eigene düstere Faszination zu entfalten beginnt. 

Die drei Momente der Aufhebung, lehrte dagegen Hegel, sind nicht voneinander zu trennen, man kann sie nicht einzeln haben, ohne mit sich selbst in Zwiespalt zu geraten. Nur eine Erinnerung, die „historisch“ geworden und zur gelassenen Erforschung freigegeben ist, läßt sich unbehelligt in ein Tabernakel oder Reliquiar einschreinen. Andernfalls bedarf es zu ihrem Schutze gewisser Maßnahmen, die ihre Integrität dementieren und ihre Authentizität verdächtig machen: Strafparagraphen, Zuchthausandrohungen. 

Nicht zuletzt und gerade diejenigen, denen die betreffende Erinnerung teuer ist, kommen dadurch in Schwierigkeiten, geraten in die Verlegenheit des Verstummen-Müssens. Denn welcher Gentleman möchte schon über eine Sache reden, wenn eventuelle Gegenredner mit Gefängnis und allen möglichen anderen Sanktionen bedroht sind? Argumente, die ausgerechnet vom Staatsanwalt oder vom Großmufti privilegiert werden müssen, sind keine. Und Erinnerungen, die gewissermaßen mit dem Rohrstock eingebleut werden, verblassen am schnellsten, wie jeder Pennäler weiß.

Vor allem aber: Erinnerungen, die nicht aufgehoben, sondern aktuell als Mythos exekutiert oder gar mittels Strafdrohungen erzwungen werden, stiften keinen Frieden. Das hat übrigens auch Susan Sontag in ihren Tagebüchern erörtert. Deren Lektüre (sie erscheinen auf deutsch bei Hanser in München) ist sehr zu empfehlen.