© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/16 / 25. März 2016

Die Chemie stimmt
Hundert Jahre Leuna-Werke: Ein Symbol für enorme Probleme, aber auch für Lösungswege beim sogenannten Aufbau Ost
Heiko Urbanzyk

Schon seit der Lehre hier und hoffentlich noch lange“, schreibt Michaela Düsterhöft auf der Facebook-Seite der Leuna-Werke. „Ja, Leuna, da hab ich auch gearbeitet“, schreibt Lothar Scholz. Der Rentner beschreibt einen Arbeitsunfall im harten Alltag eines Industriearbeiters und wie er beinahe nach einer Explosion durch einen Steinbrocken erwischt worden wäre: „Wenn er mich getroffen hätte, dann könnte ich es heute nicht schreiben.“ 

Die Leuna-Werke in Sachsen-Anhalt werden 100 Jahre alt. Sie prägten das Arbeitsleben von Generationen und setzten Maßstäbe einer ganzen Industrienation. „Dieses großartige Jubiläum verlangt einfach nach einer gebührenden Würdigung. Wir bereiten es mit unseren Partnern in Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung engagiert vor und wollen es zu einem Höhepunkt für die ganze Region machen“, erklärt Christof Günther, Geschäftsführer der InfraLeuna GmbH. Die Festwoche des Chemieunternehmens findet im Mai statt, für September ist wieder ein Tag der offenen Tür geplant. 

Stolz auf wachsende Investitionen 

Den politischen Höhepunkt dürfte bereits der Festakt am 3. März dargestellt haben: Bundeskanzlerin Angela Merkel kam als Festrednerin an den Chemiestandort Leuna. „Endlich ein entspannter Termin für die Kanzlerin“, wie der Mitteldeutsche Rundfunk den Besuch kommentierte. Die ließ es sich auch nicht nehmen, die historische Bedeutung Leunas ebenso zu betonen wie die Zukunftsfähigkeit des Standortes. Merkel zeigte sich beeindruckt vom Wandel der Region. „Leuna stand immer für Stärke, allerdings haben wir 1990 gesehen, daß es so nicht mehr weitergehen konnte“, erklärte sie. Die DDR habe in Leuna geradezu einen „Hort des Fortschritts“ gesehen. 

„Natürlich war es ein sehr fragwürdiges Verständnis von Fortschritt, wie sich nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung recht schnell herausstellte. Denn der Standort konnte aus dem Blickwinkel des Wettbewerbs, technologisch, aber vor allem auch ökologisch nicht mithalten“, so die CDU-Politikerin. Leuna habe so eine neue Chance gehabt – „nämlich zum Symbol für die riesigen Probleme, aber auch Lösungswege beim Aufbau Ost zu werden“. 

Heute, sei der Chemiestandort Leuna mit 9.000 Mitarbeitern eine „Top-adresse“ und die chemische Industrie ein „Taktgeber für die Zukunft“. Die Branche investiere mehr als zehn Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung. „Sie ist damit Innovationstreiber nicht nur für die chemische Industrie, sondern für weitere Wirtschaftszweige“, so Merkel. Zudem schaffe sie viele zukunftsfähige und gut bezahlte Arbeitsplätze. Mit 450.000 Arbeitsplätzen sei die Chemiebranche einer der größten Arbeitgeber in Deutschland.

Die Chemie in Leuna, südlich von Halle an der Saale, stimmt. „Aktuell erlebt der Standort ein so reges Investitionsgeschehen wie seit Jahren nicht mehr“, sagte Geschäftsführer Günther jüngst der Mitteldeutschen Zeitung. Die InfraLeuna GmbH ist heute Eigentümerin und Betreiberin der Infrastruktur-einrichtungen im Chemiepark Leuna. Gesellschafter sind verschiedene Firmen am Ort.

26 Produzenten verteilen sich auf dem 13 Quadratkilometer großen Areal. Darunter die Total Raffinerie Mitteldeutschland GmbH oder das Biotechnologie-Unternehmen Actilor GmbH. Hinzu kommen 21 Dienstleister (IMO Anlagenmontagen GmbH oder Wax Umweltschutz GmbH) sowie drei  Forschungseinrichtungen (Fraunhofer-Zentrum für Chemisch Biotechnologische Prozesse, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, ThyssenKrupp Industrial Solutions).

Neben der Versorgung mit Energie und Wasser wirbt die Gesellschaft mit modernem Standortmanagement, der Hilfe zur Ansiedlung neuer Unternehmen und der Beantragung von Fördermitteln. „Zu möglichst günstigen und international wettbewerbsfähigen Preisen werden den Chemiepark-Unternehmen sämtliche Infrastrukturdienstleistungen und -lieferungen aus einer Hand angeboten“, wirbt sogar das Land Sachsen-Anhalt für seinen wichtigsten Standort. 

Die Position der in Leuna ansässigen Firmen sei laut Günther gut. 2015 seien so viele Gefahrguttransporte registriert worden wie seit Gründung der InfraLeuna vor genau zwanzig Jahren nicht. Ein ortsansässiger Papierhersteller wird zehn Millionen Euro zur Produktionserweiterung investieren und weitere Arbeitsplätze schaffen. Günther freut sich: „Wäre der Standort nicht attraktiv und wettbewerbsfähig, würde hier auch niemand investieren.“ Den Leuna-Werken bescheinigt Günther eine „stolze Geschichte, die vielfach maßgeblich für Deutschland und die weltweite Entwicklung in der chemischen Industrie war. Denn viele Verfahren sind hier entwickelt worden.“ 

Management, Dienstleistung, saubere weiße Kittel: So sauber ging es in Leuna nicht immer zu, wenn auch stets auf der Höhe der Zeit und mit Pioniergeist. Im Ersten Weltkrieg, im Jahr 1916, wurden die Werke durch Carl Bosch im Auftrag der BASF als Ammoniakwerk gegründet. Am 25. Mai 1916 war Grundsteinlegung für die damals „Badische Anilin- und Sodafabrik, Ammoniakwerk Merseburg“ genannte Anlage. Die industrielle Ammoniaksynthese bildete die Grundlage für die Herstellung von Düngemitteln und, im Ersten Weltkrieg viel wichtiger, Sprengstoffen. Die Gründung dieses zweiten BASF-Werkes in Leuna wurde nötig, weil der Munitionsbedarf durch das Stammwerk in Oppau (heute Ludwigshafen) nicht mehr gedeckt werden konnte. 

Merkel lobt Helmut Kohl für sein Engagement

Ab 1923 wurde bei der Leuna erstmalig im Weltmaßstab Methanol im Hochdruckverfahren hergestellt. Dessen Erfinder, Matthias Pier (1882–1965), entwickelte auch die sogenannte Braunkohlehydrierung zur Herstellung synthetischer Treibstoffe (Leuna-Benzin) nach dem Bergius-Pier-Verfahren. Bereits am 9. August 1913 erhielt Friedrich Bergius das Patent auf das „Verfahren zur Herstellung von flüssigen oder löslichen organischen Verbindungen aus Steinkohle“. Bergius brachte seine Forschung 1931 den Chemie-Nobelpreis.

 Um die Kohleverflüssigung rankt sich bis heute ein Mythos, der mit dem zwischenzeitlichen Verbot des Verfahrens durch die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg zusammenhängt.  Angesichts der damaligen Erdölpreise war das aus Kohle gewonnene Benzin aber auch schlichtweg zu teuer. Erst in den letzten zehn Jahren gewinnen weltweit wieder Gedankenspiele und handfeste Investitionen in die Kohleverflüssigung an Bedeutung. In der Geschichte der Leuna-Werke läutete das Verfahren Ende der 1920er Jahre die Zeit als Standort der Mineralölindustrie ein. 

Der ehrgeizige Plan, im Zweiten Weltkrieg mit Hilfe des Leuna-Benzins unabhängig von ausländischem Öl die Versorgung der deutschen Wehrmacht zu sichern, wurde Leuna zum Verhängnis. 1916 erfolgte der Bau bewußt in Mitteldeutschland, um den Bomben der Franzosen zu entgehen. Im Zweiten Weltkrieg entluden die alliierten Luftflotten zwischen dem 12. Mai 1944 und 4. April 1945 eine Bombenlast von etwa 18.000 Tonnen über Leuna – dennoch kam die Produktion erst kurz vor Kriegsende zum Erliegen.

1938 hatte laut InfraLeuna GmbH die Damenwelt einen Grund zu Freude: „In Leuna gelang die Synthese von Caprolactam zur Erzeugung von Perlon.“ Die Versorgung mit feinen Strümpfen war künftig gesichert. Ein „Meilenstein in der Geschichte“, bilanziert InfraLeuna stolz. Noch mitten im Krieg, 1942, ging die weltweit erste Produktionsanlage zur Herstellung synthetischer Tenside in Betrieb – die Grundlage für Waschmittel.

Der hälftigen Demontage durch die Sowjetunion folgte die Gründung der VEB Leuna-Werke Walter Ulbricht (LWWU). Mit bis zu 30.000 Beschäftigten war es der größte Chemieproduzent der DDR. 

Nach der Wiedervereinigung vermittelte Helmut Kohl persönlich die Übernahme der Erdölraffinerie durch den französischen Mineralölgiganten Total (damals Elf Aquitaine). Er erkannte den sozialen Sprengstoff darin und fürchtete die Probleme, die eine Leuna-Schließung in sich barg. Beim Baustart der Erdölverarbeitungsanlage 1994 setzte der damalige Bundeskanzler dann folgerichtig den ersten Spatenstich in Leuna und gab sein berühmtes Versprechen von den „blühenden Landschaften“. „Vielleicht war es ein Glücksfall, daß Helmut Kohl selbst in einer Chemieregion groß geworden war und deshalb wußte, von welcher Bedeutung (...) die chemische Industrie ist, und wie wichtig es ist, daß solche Industrie nicht nur in der alten Bundesrepublik überlebt, sondern auch in den neuen Bundesländern eine Chance hat“, lobte Merkel ihren politischen Ziehvater auf dem Festakt. 





Leuna in Zahlen

70 Prozent der produzierten Güter verlassen den Standort per Schiene 

95 Prozent beträgt die durchschnittliche Senkung der Umweltbelastung am Chemiestandort seit dem Jahr 1989 

600 Kilometer verlegte Rohrleitungen zwischen den ansässigen Firmen garantieren schnelle Wege

13 Quadratkilometer groß ist das Areal des Chemiestandortes, das entspricht etwa 1.820 Fußballfeldern

5.000 Fahrzeuge befahren durchschnittlich täglich den Standort

9.000 Arbeitskräfte sind am Chemiestandort Leuna tätig

280.000 Kesselwagen werden jährlich am Standort bewegt – aneinandergereiht würde der Zug von Leuna bis nach Nowosibirsk reichen (4.480 km)

12.000.000 Tonnen Güter werden jährlich am Standort produziert

6.000.000.000 Euro wurden seit 1990 am Chemiestandort investiert