© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/16 / 25. März 2016

V weh
Volkswagen: Europas größter Autokonzern verliert Marktanteile / In Wolfsburg muß saniert werden
Peter Freitag

Katerstimmung am Mittellandkanal. Europas Autogigant Volkswagen kommt nicht aus den Negativschlagzeilen heraus. Erst tauchten neue Vorwürfe auf, wonach die Wolfsburger noch während der Ermittlungen in Sachen geschönter Abgaswerte bei den Dieselmotoren noch weiter an einer Aktualisierung der betreffenden Schummelsoftware gearbeitet und Spuren verwischt hätten. Die Zahl der Beschuldigten, gegen die die zuständige Staatsanwaltschaft Braunschweig ermittelt, ist von sechs auf 17 gestiegen. Nun die nächste Hiobsbotschaft: Ein Anwalt aus Süddeutschland kündigte an, er werde Schadenersatzklagen institutioneller Anleger in einer Gesamthöhe von sieben Milliarden Euro einreichen. Der Jurist wirft dem Konzern vor, seiner Auskunftspflicht gegenüber Aktionären nicht nachgekommen zu sein. Und von denen wollen sich viele nun ihre Verluste aus dem abgesackten Aktienkurs von VW erstatten lassen.?

„Toyota ist uns                 Riesenschritte voraus“

„Die Software-Manipulationen und ihre Folgen werden uns noch lange Zeit beschäftigen“, prophezeite Vorstandschef Matthias Müller während einer Betriebsversammlung Anfang März. „Mir ist klar, daß es Ängste und Unsicherheit in der Belegschaft gibt. Daß sich auch manche Sorgen machen um ihren Arbeitsplatz.“ Ministerpräsident Stephan Weil (SPD), der für den Anteilseigner Niedersachsen (20 Prozent) im Aufsichtsrat sitzt, versucht zu beruhigen: „Die Stammbelegschaft bei Volkswagen ist sicher. Ich habe keine Hinweise, daß sich das ändert.“ Und der Landesvater bekräftigt fast trotzig: „Volkswagen gehört zu dem Besten, was wir in Niedersachsen haben.“ 

Voraussichtlich in der zweiten Aprilhälfte will der Konzern seinen eigenen Untersuchungsbericht zum Diesel-Skandal vorlegen. Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch gab sich zuversichtlich, daß die 6,7 Milliarden Euro an Rücklagen für die technische Aufarbeitung der Diesel-Affäre ausreichen werden. Und das, obwohl gerade die Rückrufaktion für das Modell Passat, die eigentlich Ende Februar anlaufen sollte, stockt. Denn das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) hat die Genehmigung für die Nachbesserungen am Fahrzeug noch nicht endgültig erteilt. Die Freigabe solle erst erfolgen, wenn klar ist, daß die Motoren alle Voraussetzungen erfüllen. Selbst ein minimal höherer Verbrauch wäre nicht zulässig, bei den Nachrüstungen gelte eine „Null-Toleranz-Linie“.

?Die Marke VW, der Kern des gleichnamigen Volkswagen-Konzerns, verkaufte im Februar weltweit 394.400 Autos. Das entspricht einem Minus von 4,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat (Februar 2015). Zwar gingen die Verkaufszahlen in Deutschland (plus 3,6 Prozent), in Westeuropa (plus 3,9 Prozent) und in Osteuropa (plus drei Prozent) hoch; doch in China sanken sie um drei Prozent („China-Delle“ wegen des Neujahrsfestes) und in Südamerika sogar um über 30 Prozent. 13 Prozent weniger Fahrzeuge wurden an Kunden in den USA verkauft. Das hängt wie zu erwarten in erster Linie mit dem Skandal um manipulierte Abgaswerte bei Dieselfahrzeugen zusammen. Auch wenn VW auf dem europäischen Markt insgesamt Zuwächse verzeichnen konnte, so blieb deren Höhe weit hinter dem Durchschnitt. Denn angesichts niedriger Benzinpreise und Finanzierungszinsen legte der europäische Automarkt um 14,3 Prozent zu. 

Beim Volkswagen-Konzern insgesamt – also inklusive der anderen Marken wie Audi, Porsche, Skoda, Seat, MAN, Scania und VW-Nutzfahrzeuge – betrug der Rückgang im Vergleich zum Februar vergangenen Jahres 1,2 Prozent. Der Einbruch der Verkaufszahlen in Rußland beläuft sich auf 17 Prozent; das ist immerhin eine Verbesserung zum Januar, denn der wies im Vergleich zum Vorjahresmonat noch ein Minus von 30 Prozent auf. 

?Die verschlechterte Februar-Stimmung auf dem Markt drückt auch bei manchem in der Unternehmensführung aufs Gemüt. „Wenn es um die Produktivität geht, sind uns Toyota und Hyundai Riesenschritte voraus“, stellte VW-Markenchef Herbert Diess fest und forderte eine bessere Effizienz. In den vergangenen Jahren seien die Fixkosten in Wolfsburg je Auto um 1.700 Euro gestiegen. Um profitabler zu werden, könnten frei werdende Stellen nicht oder erst später neu besetzt und Zeitarbeitsverträge zurückgefahren werden. Ohne betriebsbedingte Kündigungen könnten so etwa 3.000 Stellen – vorrangig in der Verwaltung – gestrichen werden. 

Während Diess die Belegschaft auf einen harten Sanierungskurs vorbereitete, reagierte der mächtige Betriebsratsvorsitzende Bernd Osterloh gereizt. „Machen Sie die 215.000 Beschäftigten der Marke Volkswagen nicht zu Versuchskaninchen für wirtschaftswissenschaftliche Experimente“, wetterte der Gewerkschafter bei einer Betriebsversammlung. Diess habe mit seinen Bemerkungen VW schlechtgeredet, obwohl die Marke Branchen-primus sei. Sosehr auch Veränderungen nötig seien, bleibe die weitreichende Mitbestimmung der Arbeitnehmer unantastbar. „Wir werden nicht zulassen, daß planlos Stellen gestrichen werden. Diese Rasenmähermethode läuft bei uns nicht“, stellte Osterloh klar. Diess betonte in einem Interview mit der Braunschweiger Zeitung, er blicke für VW grundsätzlich optimistisch in die Zukunft. „Die Arbeitnehmerseite bei Volkswagen weiß, daß Arbeitsplätze an Kunden hängen. Und Kunden findet man durch wettbewerbsfähige Produktion und begeisternde Produkte“. Dies gelinge Volkswagen im wesentlichen in China und Europa, bekannte Diess. „In anderen Märkten habe wir Probleme. Da müssen wir besser werden.“ 

Wirtschaftsminister Olaf Lies (SPD), der wie Ministerpräsident Weil im Aufsichtsrat des Unternehmens sitzt, verwies das Gerede vom Stellenabbau ins Reich der Spekulation. Die Opposition aus CDU und FDP wirft Ministerpräsident Weil vor, seine Rolle als Kontrolleur nicht auszufüllen. Statt dessen, so CDU-Fraktionschef Björn Thümler, habe das VW-Aufsichtsratspräsidium dem im vergangenen September zurückgetretenen Vorstandschef Matin Winterkorn einen Persilschein ausgestellt. Daß der wirklich keine Kenntnis von der Manipulation an den Abgaswerten hatte, möchte so entschieden niemand mehr behaupten.

Volkswagens Fehler            in Amerika

Volkswagens Schwierigkeiten in den Vereinigten Staaten sind älter als der Diesel-Skandal – und sind wiederum mutmaßlich eine der Ursachen für die im vergangenen Jahr aufgedeckten Manipulationen. VW habe die Kundenwünsche dort nicht richtig verstanden und daher am US-amerikanischen Markt vorbei produziert, meinen Branchenbeobachter. Erfolgreich waren die Wolfsburger etwa mit dem Jetta, der in Deutschland eher ein Nischendasein fristet und häufig als „Rucksack-Golf“ verspottet wird. Doch die Amerikaner schätzen die Stufenhecklimousine mehr als den berühmteren Bruder. Für amerikanische Verhältnisse ist der Jetta ein Kleinwagen, doch VW wollte partout auch ein größeres Fahrzeug anbieten und dieses Segment nicht den deutschen Konkurrenten aus Stuttgart oder München überlassen. 

2008 errichtete man in Chattanooga im Bundesstaat Tennessee ein neues Werk und produziert dort das Modell Passat. Mit 900 Millionen Dollar subventionierte der Staat Tennessee das Projekt, nicht zuletz weil VW über 2.000 Arbeitsplätze im strukturschwachen Südstaat schuf. Allerdings hatte die Sache einen folgenschweren Geburtsfehler, wie Firmenangehörige unumwunden zugeben. Denn in Chattanooga startete der Konzern mit gleich drei Unbekannten: Ein neuer (und unerfahrener) Mitarbeiterstamm produziert in einem neuerrichteten Werk ein neues Modell, das so zuvor noch nicht gefertigt worden war. Denn der Passat „made in Tennessee“ ist nicht identisch mit dem gleichnamigen Fahrzeug aus Deutschland, er ist größer und anders ausgestattet. 

Der holprige Start hatte Folgen. Wesentlich mehr VW-Leute mußten nach Übersee, um die Probleme dort in Griff zu kriegen. „Was uns dort vor allem zu schaffen gemacht hat, ist das völlige Fehlen der Facharbeiter. Dort gab es anfangs nur Ingenieure – oder Ungelernte“, beklagt ein Insider. Und dann komme noch erschwerend hinzu, daß das Motto „hire and fire“ auch von Arbeitnehmerseite angewendet wurde. „Arbeiter, die VW qualifiziert hatte, wurden von anderen Firmen abgeworben und kündigten von einem Tag auf den anderen“, berichtet der Mann weiter. 

Doch ungeachtet dieser Schwierigkeiten gab die damalige Konzernführung die Parole aus, daß der Absatz in Amerika gesteigert werden müsse. 

Und genau hier sehen kritische Stimmen innerhalb sowie außerhalb des Unternehmens eine der Ursachen für die unter der Bezeichnung „Diesel-Gate“ bekanntgewordene Abgas-Affäre. Denn mit seiner 2005 beschlossenen Offensivkampagne für den „Clean Diesel“ wollte Volkswagen die Amerikaner von den Vorzügen des Selbstzünders überzeugen. Der ist bei US-Kunden eher unbeliebt, sie mögen Benziner mit viel Hubraum. Diesel ist zudem – anders als in den meisten europäischen Ländern – teurer. An vielen Tankstellen kann man ihn darüber hinaus nur an den Lkw-Zapfsäulen einfüllen. Das erhöht die Hemmschwelle für den Kauf zusätzlich. Aber noch schwerwiegender ist die Tatsache, daß Dieselfahrzeuge zwar deutlich weniger CO2 ausstoßen, unter anderem weil sie sparsamer sind; doch sie schneiden bei den Stickstoffoxiden (NOx-Werte) schlechter ab. Während in der EU ein niedriger CO2-Ausstoß das vorrangige Ziel ist, sind die Amerikaner bei den NOx-Werten strenger. Der Diesel hat dadurch per se die schlechteren Karten. 

Diesen Schwachpunkt zu beheben, schickte sich neben VW auch Mercedes-Benz an. Doch da die Stuttgarter in den USA traditionell das Premiumsegment bedienen, fallen die Kosten für die technisch aufwendige Stickoxid-Reduzierung nicht so stark ins Gewicht. Bei VW war jedoch klar, daß jede weitere Kostensteigerung unmittelbar negative Auswirkungen bei den Absatzchancen nach sich ziehen würde. Der Diesel mußte also möglichst billig sauberer werden. Die Lösung für dieses Dilemma sahen einige dann offenbar in einem Software-Trick. 

Wie es dort nun angesichts drohender Massenklagen, Strafen und Schadensersatzforderungen weitergeht, ist völlig offen. Mit allen zuständigen Behörden befinde sich seine Firma in „intensiven Gesprächen über eine tragfähige Gesamtlösung“, so VW-Chef Müller vage. Denn bis zum Abschluß der Gespräche habe man Stillschweigen vereinbart. 

Die Sorgen der VW-Belegschaft werden in Niedersachsen sehr ernst genommen. Vor allem in der Region rund um das Stammwerk Wolfsburg weiß man: geht es Volkswagen gut, wirkt sich das positiv auch auf andere Branchen aus. Und umgekehrt. Doch es sind auch kritische Stimmen vernehmbar. 

Die üppigen Löhne, Gehälter und Bonuszahlungen hätten vielen Mittelständlern schwer zu schaffen gemacht, da sie damit auf dem Arbeitsmarkt nicht mithalten konnten. Auch seien in der Region die Immobilienpreise immens gestiegen. Denn VW-Leute können sich das leisten, auch weil die meisten von ihnen Firmen- oder sehr günstige Jahreswagen bekommen. Kritiker bemängeln, daß eine große Zahl der – verhältnismäßig teuren – neuzugelassenen VWs, die in der Statistik als verkaufte auftauchen, in Wahrheit vom Unternehmen selbst angeschaffte Dienst- oder Jahreswagen sind, die dann in den Hauseinfahrten der Angestellten stehen. Nicht ohne Grund lautet ein Spott, das Kennzeichen WOB stehe in Wahrheit gar nicht für Wolfsburg, sondern sei eine Abkürzung für „Wagen ohne Bezahlung“.