© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

Das Recht auf die eigene Identität
Ein Band versammelt namhafte Rechtsexperten, die grundlegende Verfassungsverstöße der von Merkel praktizierten Asylpolitik anklagen
Björn Schumacher

In fünf Abschnitten vereinigt ein von  den Juristen Otto Depenheuer und Christoph Grabenwarter herausgegebener Sammelband sechzehn Beiträge deutscher und österreichischer Universitätslehrer für öffentliches Recht. Den Abschnitt „Flüchtiges Verfassungsrecht“ dominiert der Text Depenheuers. Er deutet die Flüchtlingskrise als „Ernstfall des menschenrechtlichen Universalismus“. Den universalistischen Ansatz kritisierte indes schon Immanuel Kant. „Weltbürgerlichen“ Ansprüchen, überall die gleichen, dauerhaften Aufenthaltsrechte zu genießen, setzte er ein vertraglich einzuräumendes, kurzzeitiges „Besuchsrecht“ in fremden Staaten entgegen.

Depenheuer beklagt den mit Nationalstaatsprinzip und begrenzten Aufnahmeressourcen kollidierenden Menschenrechtsutopismus deutscher Eliten. Folge dieses „Merkelschen Dilemmas“ seien gesinnungsethische Fluchtbewegungen. Man verschanze sich in der Wagenburg „humanitärer Hypermoral“ (Arnold Gehlen) oder übertrage das unvermeidbare Geschäft der Flüchtlingsabwehr einem externen „Dirty Harry“, etwa dem türkischen Staatschef Erdogan.

Universalistischem Überschwang begegnet Depenheuer am Leitfaden christlichen Naturrechts. Die „Solidargemeinschaften“ von Familie und Nation forderten einen Zusammenhalt, der den Hilfspflichten gegenüber Fremden im Rang vorgehe. Geltendes Asyl- und Ausländerrecht solle durch Abweisungen an der Grenze, Ausweisungen und Abschiebungen konsequent durchgesetzt werden.

Aus dem zweiten Abschnitt „Staatsverantwortung und Staatsrecht“ sei der Beitrag von Kyrill-A. Schwarz herausgegriffen. Ausgehend von Carl Schmitts Diktum „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, diskutiert Schwarz den „Vorbehalt des Möglichen“. Dessen systematischer Standort sei das Notstandsrecht des Grundgesetzes (GG), also etwa Artikel 35 Absatz 2 und Artikel 91 Absatz 1 GG. Skeptisch behandelt er die Frage, ob die Befugnisse der Länder zur Gefahrenabwehr oder der Grundsatz der Bundestreue den Bund zur Grenzschließung verpflichten könnten. Offensiver argumentiert hier der ehemalige Verfassungsrichter Udo Di Fabio in seinem jüngsten, heiß diskutierten Gutachten für die bayerische Landesregierung.

Im dritten Abschnitt „Staat und Grenze“ imponiert unter anderem Dietrich Murswieks Nationalstaatskonzept. Es gebe eine „Verfassungserwartung des Grundgesetzes“, bei Asylgewährung, Einwanderung und Einbürgerung den „Charakter Deutschlands als Nationalstaat der Deutschen“ und die „Identität des Staatsvolks“ nicht preiszugeben. 

Von diesem archimedischen Punkt gelangt Murswiek zum Begriff der „Obergrenze“, deren genaue Festlegung von der Integrationskapazität des multifunktionalen Staats abhänge. Eine millionenfache Aufnahme von „Flüchtlingen“ in kürzester Zeit, die sich als ungesteuerte, auf Dauer angelegte Einwanderung entlarve, verfehle dieses Kriterium bei weitem.

Murswieks demokratietheoretische Einwände gegen den Verzicht auf die Abweisung von Personen ohne Aufenthaltstitel (Paragraph 18 Absatz 2 Asylgesetz) beruhen auf dem Parlaments- und Gesetzesvorbehalt des Grundgesetzes. Allenfalls über einen verfassunggebenden Volksentscheid nach Artikel 146 GG dürfe der deutsche Nationalstaat durch einen multikulturellen Vielvölkerstaat ersetzt werden.

Christian Hillgrubers erhellender Essay – im vierten Abschnitt „Migration und Menschenrechte“ – fußt auf der begrifflichen Trennung einer befristeten Aufnahme von Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten wie Kriegsbetroffenen sowie der tendenziell unbefristeten, gesteuerten Aufnahme von Arbeitsmigranten. Diese Trennlinie müsse endlich die Rechtswirklichkeit prägen: „So hält es jedes Einwanderungsland, und wenn Deutschland sich anders verhielte, verstieße es gegen seine eigenen Interessen und wiederholte die Fehler der Vergangenheit.“  

Einen auch staatsethischen Höhepunkt enthält der fünfte Abschnitt „Verfassung und Integration“. Josef Isensee seziert den vom Bundesverfassungsgericht ausgreifend interpretierten Artikel 1 GG (Würde des Menschen). Zustimmung verdient sein Appell, „sich der Grenzen juristischer Möglichkeiten zu erinnern und Wucherungen zurückzuschneiden“. Aus dem Bekenntnis des Grundgesetzes zur Menschenwürde und der Idee universeller Menschenrechte folge mit-nichten, „daß alle Menschen dieser Erde ihre Menschenrechte auf deutschem Boden ausüben dürfen“.

Fernab der grassierenden Vermengung von Recht, Moral und Politik werden in diesem Buch die Wurzeln des demokratischen Verfassungsstaats freigelegt. Auch Nichtjuristen können davon profitieren. 

Christoph Grabenwarter, Otto Depenheuer (Hrsg.): Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, Schöningh Verlag, Paderborn 2016, gebunden, 272 Seiten, 26,90 Euro