© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

Als Staat ist Europa nicht geeignet
Der frühere Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm analysiert die Defizite der demokratischen Legitimation von EU-Kommission und Europaparlament
Detlef Kühn

Der renommierte Verfassungsrechtler und frühere Richter am Bundesverfassungsgericht, Dieter Grimm, legt in seinem neuen Buch zwölf Beiträge zur Diskussion über Europas Zukunft vor. Sie sind mit Ausnahme eines Vortrags vom Mai 2015 alle bereits in Zeitungen, Fachzeitschriften und Sammelbänden veröffentlicht worden. Seine Gedanken kreisen immer um die Europäische Union, ihre Geschichte und ihre Erfolge, aber auch um ihre nicht mehr zu übersehenden Probleme und ihre stetig abnehmende Akzeptanz bei den „Unionsbürgern“, gemeint sind die Völker Europas. 

Die Ursachen dafür sieht Grimm in Legitimationsdefiziten der Union, die ihren angeblichen Bürgern mehr und mehr bewußt werden und sie entweder in die Resignation (wie Wahlenthaltung) oder in die Arme europakritischer Parteien treiben. Es fehle den Organen der EU an demokratischer Legitimation, die eigentlich nur beim Europäischen Rat, also der Versammlung der Regierungschefs der Mitgliedsstaaten, gegeben sei, die sich auf demokratisch zustande gekommene Mandate ihrer Wähler in den einzelnen Nationalstaaten stützen können. 

Die Kommission und der Europäische Gerichtshof (EuGH), die gemeinsam die immer mehr und schleichend „vertiefte“ Integration vorantreiben, seien dagegen in keiner Weise demokratisch legitimiert. Auch beim Europäischen Parlament sieht Grimm erhebliche Demokratiedefizite, da die Abgeordneten nur in ihren Ländern gewählt werden und außerdem die Stimmen ein ganz unterschiedliches Gewicht haben, wobei die kleinen Staaten zu Lasten der größeren, vor allem Deutschlands, bevorzugt werden.

Grimm untersucht die Probleme auf streng juristischer Grundlage – für wirtschaftliche und andere Argumente fühlt er sich nicht kompetent genug – bis ins Detail und stellt auch Überlegungen an, wie zum Beispiel den sogenannten europäischen Parteien, die keine Einzelmitglieder kennen, sondern nur Zusammenschlüsse von unterschiedlichen nationalen Parteien sind, zu demokratischer Akzeptanz verholfen werden könnte. 

Letztlich scheitern diese Überlegungen an einem ganz wichtigen Argument, nämlich daß die EU nach Auffassung der wohl herrschenden Meinung des Bundesverfassungsgerichts nicht die Qualität eines Staates hat und diese nach dem Grundgesetz auch nicht erhalten dürfe. Grimm beklagt mehrfach, daß sich die europäischen Politiker bisher stets um die Diskussion des Endziels ihrer Politik (die „Finalität“) herumgedrückt hätten. Dies sei eine wichtige Ursache des Vertrauensverlustes in der Bevölkerung. Der europäische Bundesstaat, der manchen Menschen als Ziel vorschwebe, sei auf der Basis des Grundgesetzes und anderer nationaler Verfassungen nicht einzuführen und – das läßt Grimm durchblicken – wegen der Identität der Nationalstaaten auch nicht wünschenswert. Dann bleibt also, möchte der Rezensent daraus folgern, wohl nur noch das Europa der Vaterländer – ein Schluß, den der Autor in seiner rein juristischen Diktion allerdings meidet.

Die einzelnen Texte in Grimms Sammelband dürften für Nichtjuristen oft  nur schwer verständlich sein. Dennoch muß er allen an Europapolitik Interessierten empfohlen werden. Er zeigt, auf welche Ursachen die heute zum Beispiel in der Eurokrise beklagten angeblich alternativlosen Probleme zurückzuführen sind: Man hat den Brüsseler Beamtenapparat unter Führung der Kommissare und mit tatkräftiger Unterstützung durch den EuGH zu lange gewähren lassen. Dann bleibt unter Umständen vielleicht nur noch – wie es jetzt in Großbritannien zur Abstimmung steht – ein „Brexit“ als Ausweg.

Dieter Grimm: Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie. Verlag C.H. Beck, München 2016, broschiert, 288 Seiten, 24,95 Euro