© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

„Heimat, das war für mich meine Mutter“
Erika Steinbach, die langjährige Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, legt ihre biographische Rückschau vor: Einsatz für die Unteilbarkeit der Menschenrechte
Gernot Facius

Wer 1943 geboren wurde, den wird man nur bedingt der Erlebnisgeneration unter den deutschen Vertriebenen zurechnen. Wie viele dieses Jahrgangs hat sich auch Erika Steinbach relativ spät, erst zu Beginn der neunziger Jahre, mit dem Schicksal der Millionen von Haus und Hof verjagten ostdeutschen Landsleute auseinandergesetzt. 

„Für mich“, gibt sie zu, „ist Heimat nicht ein bestimmter Ort, nicht eine Landschaft.“ Sie erinnert sich nicht an ihren westpreußischen Geburtsort Rahmel westlich von Danzig, auch kaum an die Zeit als Flüchtlingskind in schleswig-holsteinischen Bauernhäusern. „Heimat, das war und ist für mich meine Mutter.“ Das häßliche Wort „Berufsvertriebene“ müßte Kritikern der direkt gewählten CDU-Bundestagsabgeordneten aus Frankfurt am Main eigentlich im Halse steckenbleiben: Als bei ihr politisches Bewußtsein und Interesse einsetzten, galt Steinbachs Mitgefühl zunächst den NS-Opfern, ihre Bewunderung den Widerstandskämpfern gegen Hitler. 

Seit Jahrzehnten ist sie Mitglied der der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, viele Jahre war sie in der Mainmetropole Schirmherrin der jüdischen Frauenorganisation WIZO (Woman’s International Zionist Organization). Der Vorwurf, Steinbach versuche, durch ihr Engagement für die Vertriebenen (von 1998 bis 2014 präsidierte sie dem BdV) den Holocaust zu relativieren, fällt angesichts einer solchen Biographie schnell in sich zusammen. 

Aber es gehört zur Maxime der Unionspolitikerin, daß Menschenrechte unteilbar sind, sie müßten immer und überall gelten, sie dürften nicht „opferspezifisch“ betrachtet werden. Das war bereits der Tenor ihres vor fünf Jahren erschienenen Buches „Die Macht der Erinnerung“, das jetzt unter dem Titel „Flucht, Vertreibung, Mahnung“ aktualisiert wurde: als Erfahrung eines Lebens.  

Zu Recht beruft sie sich auf den Politologen Alfred Grosser, der die Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge als die größte sozial- und wirtschaftspolitische Aufgabe bezeichnet hat, die in der noch vom Krieg versehrten jungen Bundesrepublik gemeistert worden sei. Warum konnte sie gelingen? Weil, wie Steinbach in Erinnerung ruft, die  Heimatvertriebenen nicht Rachegedanken kultiviert, sondern immer wieder zu erkennen gegeben haben, daß sie ein neues Miteinander mit den Staaten und den Menschen wollen, die sie verjagt haben. 

Die Autorin zitiert auch den Soziologen Eugen Lemberg, der von der „Entstehung eines neuen Volkes aus Binnendeutschen und Ostvertriebenen“, von einer „Ethnomorphose“, gesprochen hat. Denn niemals seit dem Dreißigjährigen Krieg waren die demographischen und konfessionellen Verhältnisse in Deutschland dermaßen umgestürzt worden. Jeder zweite Deutsche lebte schon 1945 nicht mehr dort, wo er 1939 seinen Lebensmittelpunkt gehabt hatte. Viele konnten allerdings in ihre Heimatorte zurückkehren, wenn sie es denn wollten. Nicht so die Vertriebenen. 

Steinbach versucht etwas, was heute nicht mehr selbstverständlich ist: die Verteidigung der Charta der Vertriebenen (1950) als moralisches Fundament über den Tag hinaus: „Aus keinem einzigen Satz, aus keiner Silbe dieser Deklaration sprach Haß gegenüber den Nachbarvölkern.“ Hätten sich die Ost- und Sudetendeutschen an jenem 5. August 1950 für einen anderen Weg als den des Willens zum Miteinander entschieden, so sähe Deutschland heute anders aus. 

Alle demokratischen Parteien standen damals noch an der Seite der Vertriebenen. Das änderte sich erst im Zuge der „neuen Ostpolitik“ der sozial-liberalen Koalition. Doch weder durch die Ostverträge noch durch Nachbarschaftsverträge blieb die Vermögensfrage der Vertriebenen offen, sie kocht immer wieder hoch, das zeigen auch die aktuellen Diskussionen innerhalb der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Erika Steinbach gibt sich überzeugt, daß eine „tragbare innerdeutsche Lösung möglich ist, die endlich Rechtsfrieden bewirkt“. Sie sei sich sicher, daß schlichtes Nichtstun Deutschlands „nicht dauerhaft von dieser Frage befreit“. 

Das ist allerdings sehr zurückhaltend formuliert. Denn auch die Bundesregierung Merkel/Gabriel hat wie ihre Vorgängerinnen unmißverständlich zu erkennen gegeben, daß sie nicht daran denkt, eine operative Politik zur Regelung der Eigentums- bzw. Entschädigungsproblematik zu betreiben, sprich: Forderungen nach Restitution aktiv zu unterstützen. Daß unter Steinbachs Regie der Bundeskanzlerin eine eigens für sie geschaffene BdV-Ehrenplakette in der Sonderstufe „Gold“ verliehen wurde, mußte deshalb viele Verbandsmitglieder irritieren. 

Gewiß, ohne Merkel wäre es nicht gelungen, die Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ als staatliche Einrichtung zu etablieren. Ohne sie wäre auch der „nationale Gedenktag“ für die Opfer von Flucht und Vertreibung nicht realisiert worden. Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit. Die damalige BdV-Präsidentin wurde vom entscheidenden Gremium der Stiftung, dem Stiftungsrat ferngehalten. Merkel hat das geschehen lassen. Sie ließ die Impulsgeberin für diese Einrichtung im Regen stehen. Und den Beschluß, den „nationalen Gedenktag“, der seit Jahren vom BdV und Landsmannschaften gefordert wurde, mit dem weitgehend unbeachteten „Weltflüchtlingstag“ der Vereinten Nationen zu verbinden, kann man auch anders deuten als „ein gutes Signal für die Heimatvertriebenen“. Signalisiert er nicht eher eine Flucht vor der Entscheidung, das Schicksal der deutschen Vertriebenen und eine Anerkennung ihres Beitrags zum friedlichen Miteinander in Europa angemessen zu würdigen und in der Refugee-Seligkeit zu verwässern? Erika Steinbach begegnet der Kanzlerin mit großer Nachsicht. Das mindert jedoch nicht die Bedeutung ihrer Streitschrift für die unteilbaren Menschenrechte.

Erika Steinbach: Flucht, Vertreibung, Mahnung. Menschenrechte sind nicht teilbar. Erfahrungen meines Lebens. Herbig Verlag, München 2016, gebunden, 256 Seiten, 22 Euro