© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

Rädelsführer aus Barbaristan
Prophet der Deutschen: Volker Reinhardt stellt aus der Sicht des Vatikans „den Ketzer“ Luther als Motor einer politischen Emanzipationsbewegung nördlich der Alpen vor
Karlheinz Weißmann

Die Auffassung von Luther als „Ketzer“ ist aus der Mode gekommen. Für die evangelische Seite war sie sowieso nie akzeptabel, da der Reformator ihrer Auffassung nach das Christentum auf seine eigentlichen – evangelischen – Grundlagen zurückgeführt hatte. Für die katholische ist sie ins Hintertreffen geraten, jedenfalls in einer Phase des ökumenischen Tauwetters. Allerdings hat Rom den Protestanten unlängst noch einmal im Namen des allgemeinen – katholischen – Geltungsanspruchs den Charakter der Kirchlichkeit abgesprochen. 

Auf diesen in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen Sachverhalt weist Volker Reinhardt am Schluß seines Buches „Luther, der Ketzer“ ausdrücklich hin. Reinhardt, ausgewiesener Kenner der Geschichte der Renaissance, hat sich unter Heranziehung bisher ungenutzter Quellen, vor allem der Berichte päpstlicher Gesandter in Deutschland, mit der katholischen Sicht auf die Ereignisse zwischen Thesenanschlag und Luthers Tod befaßt. Zu ganz neuen Einsichten führt das nicht, aber doch zur Klärung einiger Sachverhalte. Dazu gehört die notorische Unterschätzung Luthers und seiner Anhängerschaft durch die Kurie. 

Es herrschte die Vorstellung, daß Luther nicht aus eigenem Entschluß oder Überzeugung, sondern als Strohmann mächtiger – weltlicher oder geistlicher – Hintermänner handele und man es im Grunde nur mit einem Wiederaufleben jener häretischen Strömungen zu tun habe, die aus der Vergangenheit sattsam bekannt waren und die sich auf den üblichen Wegen (Tötung der Rädelsführer, Einschüchterung der Gefolgschaft, Bestechung oder Ausschaltung der Unterstützer) beseitigen lassen würde. Hinzu kamen selbstverständlich Vorstellungen, die genauso auf der Gegenseite umliefen: daß nämlich der Teufel seine Hand im Spiel habe, der Feind nicht nur als weltanschaulicher, sondern auch als metaphysischer behandelt werden müsse und dessen Überzeugungen sachlich falsch und böse seien und ihre Verbreitung die Menschen von Gott abwendig mache und ins Verderben führe.

Daß die Unterdrückung der Reformation trotz der Machtmittel der Kirche letztlich scheiterte, hatte ganz wesentlich damit zu tun, daß sich die zu Lebzeiten Luthers amtierenden Päpste aus den Häusern Medici und Farnese immer nur phasenweise mit dem „Erzketzer“ beschäftigten und im übrigen lieber mit diplomatischen Winkelzügen, inneritalienischen Problemen und der Versorgung ihrer Familien. 

Zu Recht weist Reinhardt darauf hin, daß weder an eine sachliche Klärung noch an eine gütliche Beilegung oder einen Kompromiß – wie im Fall der böhmischen Hussiten – zu denken war. Dabei geht es ihm allerdings auch um die Tatsache, daß im Untergrund des Kampfes zwischen Wittenberg und Rom noch ein anderer tobte: ein „clash of cultures“ – ein Zusammenprall der Kulturen. 

Gemeint waren damit die italienische und die deutsche. Die eine geprägt von dem Enthusiasmus, mit dem die Renaissance seit mehr als einem Jahrhundert die politischen, wirtschaftlichen und geistigen Eliten jenseits der Alpen erfüllte, die sich als wahre Erben der Antike sahen. Die andere bestimmt von einer Mischung aus Unterlegenheits- und Überlegenheitsgefühlen. Erstere gespeist aus der dauernden Zurücksetzung durch den päpstlichen Stuhl – seit der Mitte des 15. Jahrhunderts waren die „gravamina“, also die Beschwerden, ein ständiges Thema der Reichstage – zweitere genährt von der Wiederentdeckung der eigenen stolzen Vergangenheit und der Entstehung eines besonderen Humanismus. 

Daß dessen führende Köpfe, von Dürer bis Hutten, sich sofort auf die Seite der Reformation stellten, erklärt Reinhardt mit jenem Nationalismus der frühen Neuzeit, dessen Bedeutung für die Reformation und die Kirchenspaltung in der Forschung lange unterschätzt wurde. Demgegenüber stellt er in den Mittelpunkt, welches Konfliktpotential in den Selbstentwürfen als Unverdorbener und als Zivilisierter, aber mehr noch in den Feindbildern vom „barbarischen“ Deutschen oder vom „welschen“ Italiener bereitstand. 

Deshalb hatte die Durchsetzung von Luthers Lehre nördlich der Alpen eben nicht nur zu tun mit einer spezifischen Gotteslehre, Christologie und Gnadenauffassung, sondern auch damit, daß der „Prophet der Deutschen“ (manchmal gegen seine Intention) Auffassungen zum Durchbruch half, die von seinen Landsleuten als religiöses wie als politisches Programm verstanden wurden. Umgekehrt hatte die Abwehr der Reformation ihre Gründe genauso in der Erinnerung an ein übermächtiges – deutsches – Kaisertum wie in der Vorstellung, daß man selbst die eigentliche – römische – Überlieferung bewahre, deren Verschmelzung von Heidnischem und Christlichem ihre Dignität ausmachte.

Man wird gegen diese Interpretation wenig einwenden können, zumal sie vielen älteren Deutungen entspricht, die lediglich verdrängt, aber nicht durch überzeugendere ersetzt wurden. Zu ergänzen wäre allerdings, daß der Nationalismus nicht erst in der Renaissance „erfunden“ wurde, wie Reinhardt behauptet, sondern seine Wurzeln im Mittelalter hatte. Außerdem wirkt der Versuch, eine Äquidistanz zwischen Positionen im Reich und südlich der Alpen herzustellen, wenig überzeugend, wenn man zur Kenntnis nimmt, daß es eben nicht nur um verschiedene Meinungen ging, sondern um eine Kontroverse, die sachliche Gründe hatte. 

Das gilt im übrigen nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die Gegenwart, in der Reinhardt ein Wiederaufleben des Nationalismus beobachtet, der Frontstellungen variiert, die seit langem sichtbar oder unsichtbar zwischen den europäischen Völkern verlaufen.

Volker Reinhardt: Luther, der Ketzer. Rom und die Reformation. Verlag C.H. Beck, München 2016, gebunden, 352 Seiten, Abbildungen, 24,95 Euro