© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

Das Leiden am schlechten Klima
Jenseits von Stahlgewittern: Der Historiker Steffen Bruendel über die Einflüsse der kühlen Sommer während des Ersten Weltkriegs auf Literaten und Künstler
Günter Scholdt

Anzuzeigen ist „Jahre ohne Sommer“, ein Schnellschuß und Nachklapp zum hundertjährigen Weltkriegsgedenken. Der Umschlag bewirbt den Band wie folgt: „Die historischen Ereignisse des klimatisch und militärisch extremen Kriegsjahres 1916 verknüpft Steffen Bruendel auf einzigartige Weise mit den Kunstwerken und Gedichten großer europäischer Künstler – ein beeindruckendes Leseerlebnis.“ 

Klappentexte bieten üblicherweise nicht die seriösesten Empfehlungen, doch dieser übertreibt es damit. Denn das „Einzigartige“ dieser Verknüpfung läuft auf einen uninspiriert kompilierenden Schematismus hinaus, geprägt vom Gestaltungsprinzip: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.“ Konkret bedeutet dies: Man nehme ein paar Kenntnisse über anglo-amerikanische „war poets“, dazu Künstler wie Franz Marc, Wilhelm Lehmbruck und Paul Nash, mische sie auf mit Geschichtsreferaten von weithin Bekanntem, füge gängige Moralia hinzu, darunter die Frage, ob auch kriegskritische Texte gleichwohl heroisierten, spicke es mit Gedicht- oder Briefzitaten und nicht selten recht platten Begleitkommentaren und versehe das Ganze mit einer Aufmerksamkeit heischenden Glasur. 

Dazu gehören das aktuelle Reizthema „Klima“, das enge Kausalitäten mit Kriegen suggeriert, das zum erneuten Gedenkjahr hochstilisierte 2016 oder reißerische Zwischentitel, teils nichtssagend („Edward Thomas ist genervt“, „Die Ägyptische Mücke“, „Henri Barbusse ist Feuer und Flamme“, „Gorch Fock wird nicht seekrank“), teils sogar irreführend: „Arnold Zweig zählt Juden“ oder „Wilhelm Lehmbruck stürzt“.

Im Vorwort heißt es zum Buchkonzept: „1816 und 1916 waren zwei Jahre ohne Sommer. Gigantische Katastrophen gaben jeweils den Anstoß für innovative künstlerische und literarische Entwicklungen. Die klima- und kriegsbedingt schrecklichen Sommer jähren sich 2016 zum 100. bzw. 200. Mal. Die kunst- und literaturgeschichtlichen Aspekte des sommerlosen Jahres 1916 machen es lohnenswert, einen Blick auf diese Zusammenhänge zu werfen.“ Anhand von dreizehn europäischen Vertretern „des literarischen und künstlerischen Feldes“, bei denen Bruendel durch den naßkalten Sommer 1916 eine prägende Zäsur feststellen will. Denn kein Artilleriefeuer vermochte „die Widerstandskraft des Menschen so gründlich zu brechen (...) wie Nässe und Kälte“.

Vor allem dieser nie eingelöste spektakuläre Anspruch, den Krieg einmal nicht nur als Feuer- und Stahlwalze, sondern vom klimatischen Standpunkt her zu betrachten, macht die Publikation zum Ärgernis. Schließlich verstellen meist aktionsbezogene Darstellungen häufig die Einsicht, daß ein Gros der Gefallenen Opfer von Krankheiten waren (Spanische Grippe, Erfrierungen, Vergiftungen). Doch genau dieser Aspekt kommt im Buch nur auf wenigen Seiten oder in Zitaten über Regen, Schnee und Kälte zur Geltung. Nirgends wird er zum eigentlichen Gegenstand, getragen von systematischen Belegen und intensiver Erörterung ganz spezifischer künstlerischer oder strategischer Folgen. Alles bleibt bloß angetippt, nimmt nicht mehr Raum ein als die ausgiebige Behandlung der (häufig gleich-)geschlechtlichen Vorlieben bestimmter Poeten, ihrer jeweiligen Verankerungen in der Kunstszene, ihrer Freiwilligenmeldung als Sehnsucht nach Unsterblichkeit oder Folge von Anpassungsdruck. Dabei hätte der Leser gern – gerade von so schreibmächtigen Schriftstellern – erfahren, ob sich Modris Eksteins’ von Bruendel zitierte These belegen läßt: daß eben keine Kanonade seelisch so verheerend gewirkt habe wie Nässe und Kälte.

Statt dessen dominieren Geschichten, die nichts oder nur indirekt mit dem Thema zu tun haben: ein Kunstskandal von 1913 ebenso wie Exkurse zur Geschichte von Kriegsorden, die „Liman-von-Sanders-Krise“, Vorkriegsausstellungen des „Blauen Reiter“, Admirals- oder Generalskarrieren, Schlachtpläne ohne Bezug zu den Einzelerlebnissen der Künstler und Schriftsteller, Ringelnatz’ stille Abrüstung bei Kriegsende und so weiter. Kaum etwas wird typologisch verdichtet. Daß Gemäldebeschreibungen ohne Abbildungen nur begrenzten Erkenntniswert besitzen, sei nur am Rande vermerkt. 

Hinzu kommen Ungenauigkeiten. Von den durch Bruendel behandelten Kulturschaffenden heißt es, für sie werde 1916 zum Schicksalsjahr. Rupert Brooke starb allerdings bereits im April 1915. Auch die Lebensläufe der anderen konzentrieren sich keineswegs auf jenes Jahr, zumal die vom Autor teils klimatisch motivierte Zäsur für die wenigsten gilt. Zudem war die unter 1916 gebuchte Gallipoli-Schlacht am 6. Januar dieses Jahres schon beendet und beschränkte die britischen Operationen nur noch auf bloße Absetzbewegungen. Und daß das Wetter – und sei es in der Wahrnehmung der Beteiligten – die Skagerrak-Schlacht entscheidend beinflußt habe, wäre nachzuweisen. Kurz: Hier wurde krampfhaft, aber vergeblich ein origineller Anknüpfungspunkt gesucht.

Auch die Auswahl der behandelten Autoren und Künstler besitzt keine Evidenz, sondern ist lediglich den Spezialgebieten des Autors geschuldet. Anglo-amerikaner sind deutlich überrepräsentiert. Vertreter aus Österreich-Ungarn, Italien oder Rußland fehlen. Frankreich bleibt auf Barbusse beschränkt. Ringelnatz und Gorch Fock figurieren als Marinesoldaten. Jünger und Remarque waren nicht zu übergehen. Arnold Zweig kam hinzu. Weitere Klassiker der Materialschlacht sucht man vergeblich. 

Ich fahnde nach Leistungen des Buchs: Den meisten hierzulande dürften englischsprachige Kriegslyriker wenig vertraut sein: Namen wie Rupert Brooke, Siegfried Sassoon, Charles Sorley, Wilfred Owen, Edward Thomas, Alan Seeger. Dennoch lohnt ein Blick auch auf sie, zumal viele der ekelhaften Northcliffe-Propaganda widerstanden. Solcher philologische Brückenschlag ist also verdienstvoll. Und wer von Barbusse nur die Pazifismus-Legende kennt und „Le Feu“ nie selbst in der Hand hatte, erfährt hier immerhin, daß auch dieses Kriegsbuch „Durchhalteliteratur“ war und mit antideutschen Affekten nicht sparte. Unbedarfte Leser mögen Basisinformationen über bedeutsame Schlachten des Jahres 1916 belehren. Allerdings zöge ich andere Autoren vor (für Verdun etwa German Werth, für Skagerrak die Romanschilderung Theodor Pliviers). Der Hinweis auf Wolf Hartmanns 1939 erschienene Anthologie europäischer Kriegslyrik ist nützlich. Viel mehr aber fällt mir zur Rechtfertigung dieser Publikation wirklich nicht ein. 






Prof. Dr. Günter Scholdt ist Germanist und Historiker und war Leiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsaß. Er ist Autor des Buches „Die große Autorenschlacht. Weimars Literaten streiten über den Ersten Weltkrieg“ (Schnellroda 2015).

Steffen Bruendel: Jahre ohne Sommer. Europäische Künstler in Kälte und Krieg. Herbig Verlag, München 2016, gebunden, 320 Seiten, 24 Euro