© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

Auf den Karlspreis fixiert
Wolfram Siemanns wenig überzeugende Deutung des Staatsmannes Clemens von Metternich als Martin Schulz des 19. Jahrhunderts
Eberhard Straub

Mit unerschütterlichem Selbstvertrauen schrieb Fürst Clemens Metternich 1819 seiner Freundin, der Gräfin Dorothea Lieven: „Wenige Menschen haben mich begriffen und wenige begreifen mich noch heute. Mein Name ist mit so vielen ungeheuren Ereignissen verbunden, daß er unter ihrem Geleite auf die Nachwelt übergehen wird. Ich sage Dir: in hundert Jahren wird der Geschichtsschreiber mich ganz anders beurteilen als alle die, die es jetzt mit mir zu tun haben.“ 

Es waren vor allem Liberale und Nationalisten unterschiedlichster Richtungen, die Metternich als den Dämon Österreichs und „Fürsten Mitternacht“ weit über den Tod hinaus bekämpft und geschmäht hatten. Zwischen 1914 und 1918 zerbrach endgültig die europäische Friedensordnung, wie sie unter seiner Leitung auf dem Wiener Kongreß hundert Jahre zuvor geschaffen worden war. Der Erste Weltkrieg war aber auch die Katastrophe des bürgerlichen Liberalismus, von der er sich nicht mehr erholte. 

Diese Zusammenbrüche und die Unfähigkeit, nach dem Kriege zu einem Frieden zu finden, veranlaßten seitdem Historiker und Dichter, geduldiger auf die Welt von gestern zu schauen. Vielen unter ihnen ging es wie Hugo von Hofmannsthal, der im Mai 1928 gegenüber dem Historiker und Politiker Josef Redlich das für Österreicher ganz neue, quälende Lebensgefühl knapp umriß: „Und so haben wir ein Vaterland und eine Aufgabe – und eine Geschichte – gehabt, und müssen weiterleben.“ 

In diesem Sinne gehörten von nun an Metternich und der polemische Streit um seine Bedeutung zu einer Vergangenheit, die über das lange 19. Jahrhundert bereits vernebelt war. Das durchaus beklemmende Erleben der Gegenwart veränderte gründlich das Bild Metternichs und des untergegangenen Österreich. Heimito von Doderer, ein ehemaliger k.u.k. Offizier, konnte 1963 in seinem letzten Roman, „Die Wasserfälle von Slunj“, drei Gymnasiasten im Wien um die Jahrhundertwende als Mitglieder eines Clemens-Metternich-Club schildern. Der ehedem von Fortschrittlern und Demokraten verachtete Staatskanzler galt diesen um geistige Anmut und Stil bemühten jungen Männern auch als bedeutender politisch-historischer Denker, vor allem aber als ein Inbegriff vornehmer Lebensart und sittlicher Eleganz. 

Heimito von Doderer, habilitierter Historiker, stand damals unter dem Einfluß der monumentalen Biographie Metternichs, die Heinrich von Srbik, einer seiner akademischen Lehrer, 1925 veröffentlicht hatte und bis auf den heutigen Tag fortwirkt. Alle europäischen und US-amerikanischen Historiker, die sich seitdem mit Metternich beschäftigten, um erfolgreich die schwarze Legende über ihn eben als Legende gegenstandslos zu machen, verstehen sich als Fortsetzer Srbiks, der zu den großen Geschichtsschreibern und Denkern über Geschichtsschreibung im Europa des 20. Jahrhunderts gehört. 

In diese Schar möchte sich Wolfram Siemann mit seinem Lebensbild Metternichs nicht einreihen. Denn dem alt-österreichischen Ritter von Srbik unterstellt er biologistischen Rassismus, deutsch-nationalen Kulturimperialismus, Herrenmenschentum und Abhängigkeit von Führermythen. Deshalb konnte ein solcher von schrecklichen Vorurteilen beengter Geist Metternich gar nicht begreifen. An keiner Stelle seines insgesamt schwer überschätzten Werkes habe er damit gegeizt, die geistigen und politischen Qualitäten dieses „Architekten Europas“ herabzusetzen. 

Zu solch bislang nie erhobenen Vorwürfen kann wahrscheinlich nur ein westdeutscher Westeuropäer gelangen. Als heutiger Biograph sieht Wolfram Siemann seine Aufgabe nicht darin, sich der vielfach gebrochenen historischen Wahrheit anzunähern, sondern nach der weltpolitischen Wende von 1989/90 „einer neuen Zeitgenossenschaft gerecht zu werden“. Unter dem Eindruck dieser epochalen Herausforderungen gehört „zu den Themen der nach 1945 geborenen Generationen“ nicht Metternich, Deutschland und Österreich, vielmehr – westdeutsch und westeuropäisch gesprochen: „Metternich and Europe: revisited.“ Aber nicht als großes Kostümstück in Anlehnung an Evelyn Waughs „Brideshead revisited“, sondern als Besinnung auf den großen „Strategen und Visionär“, wie der Untertitel Metternich charakterisiert. Dieser Visionär sah schon die Europäische Union, wie sie sich nach 1989 entwickelte, als Idee und mögliche Gegenwart. Deshalb müßte er eigentlich für den Karlspreis in Aachen vorgeschlagen werden, weil er sich wie kaum ein anderer um Europa, die Europäische Union und den Euro verdient gemacht hat.

Metternich ist Rheinländer und fast schon Bonner im Geiste und daher Westeuropäer. Er spricht französisch, ist von der Aufklärung berührt und steht als internationaler Aristokrat in der Tradition weltbürgerlicher Vorurteilslosigkeit, ohne als geborener Reichsgraf aber ein vaterlandsloser Geselle zu werden. Die Französische Revolution unterbricht mit schrecklicher Gewaltsamkeit das Konzert aufeinander abgestimmter, sehr vernünftiger und kommunikativer politischer Musiker. 

Sie verwirrt die Europäer und stört deren Fähigkeit, diskursethisch aufeinander zu hören und miteinander zu handeln. Die Revolutionäre reden von der Nation, vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, sie verfolgen dennoch nur französische Interessen ohne Rücksicht auf Europa. Napoleon ruft sie zur Ordnung. Doch auch er denkt nur an sich und als Kaiser der Franzosen an ein französisches Europa von Gibraltar bis zum Ural unter der Leitung geistiger Leichtathleten, die mit den französischen Truppen erziehend und umerziehend in die besiegten Staaten einfallen. 

Metternich, der europäische Visionär, ist schon als Jüngling entsetzt und weise für immer geworden, ein Vorläufer des Europapolitikers Martin Schulz und aller deutschen Europäer, die lyrisch ergriffen ununterbrochen fordern: Kommt, reden wir zusammen! Metternich will ein kommunikatives Europa, ein Europa immer offen für den Dialog, das sich nicht abschottet, keine Angst vor Türken kennt, aber leider damit rechnen muß, daß die Russen wie eh und je die westliche Wertegemeinschaft bedrohen. 

Die Russen sind, nachdem die Franzosen durch ihre Niederlage klug gemacht worden waren, die schrecklichsten Feinde europäischer Hoffnungen, die ein für allemal mit Metternichs Aufforderung verbunden sind: seid nett zueinander! Diese menschenfreundliche Bitte wurde leider wegen des lauten Radaus bornierter Preußen und nicht lernfähiger Russen meist überhört. Um so mehr müssen wir uns jetzt entschlossen ihren Verheißungen öffnen. Metternichs Wertehimmel muß wegen seines kosmopolitischen Impetus trotz wechselnder Zeithorizonte im Erinnerungshaushalt präsent bleiben, vor Ort und unbedingt auf höchsten Ebenen bei Vieraugen-Begegnungen politischer Alphafiguren. Schließlich können wir uns keine historische Kurzsichtigkeit leisten. 

Man kann sich komplexe Probleme gar nicht konkret genug vor Augen führen, die Metternich und andere hautnah erlebten, denn sonst geriete man leicht in argumentative Sackgassen. Dank Metternichs Sorgfalt waren seit Jahren überall bereits „Steine für das kommende Wiener Mosaik fixiert worden“. Der Wiener Kongreß 1814 bis 1815 als Gesamtpaket mit einem Design normativer Qualität gilt Wolfram Siemann, ohne sich auf der Ebene des Täglichen und Einzelnen zu verirren, als Beweis dafür, wie entscheidend im erfolgreichen Konfliktmanagement Schlüsselfiguren in Schlüsselstellungen sind. 

Wer ein wirklicher Visionär ist –wie Metternich der allseits Vernetzte –, sieht auf seinem inneren Röntgenschirm schon die kommenden Entwicklungen, ohne die Ideen anderer klonen zu müssen. Seine Antennen reichen ganz weit, und mühelos vermag er den direkten Draht zu all denen herzustellen, die das Sagen haben. Deshalb konnte kein noch so kompliziertes Problemgeflecht Metternich je überraschen. Ihm glückte es immer, mit Monarchen und Ministern in Badeorten sogar leibhaftig beisammen, unter schwer überschaubaren epochalen Zeithorizonten die dramatischen Handlungsebenen vor erstarrendem Kristallisieren zu bewahren. Das war geradezu sensationell! 

Es fällt schwer, die Satire über dieses Buch nicht zu schreiben. Doch der Autor gibt einen Hinweis, der Nachsicht nahezu zur humanistischen Pflicht macht: „Die Vergangenheit ist komplizierter, als die Geschichtsschreibung sie erschließen kann.“ Dem hätte der Ritter Heinrich von Srbik in herkömmlicher Ritterlichkeit gar nicht widersprochen. Wer sich über Metternichs Rang in der europäischen Geschichte unterrichten möchte, bleibt weiterhin auf diesen großen Historiker angewiesen.   

Wolfram Siemann: Metternich. Stratege und Visionär. Verlag C. H. Beck, München 2016, gebunden, 983 Seiten, Abbildungen, 34,95 Euro