© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

Sonst kommt die Flut
Die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Kelly M. Greenhill hat die aktuellen Verhandlungen während des EU-Türkei-Gipfels in ihrem Werk präzise vorhergesagt: Eine Analyse über den Einsatz von Migrationsströmen als politisches Droh- und Erpressungsinstrument gegenüber den Zielländern
Michael Paulwitz

Daß Massenmigration auf die Zielstaaten wie eine strategische Waffe wirken kann, lehrt inzwischen auch in Deutschland der tägliche Augenschein. Schwerer ist da schon der Nachweis zu führen, daß Migrationsströme gezielt ausgelöst und bewußt als Waffe eingesetzt werden. Nicht immer ist der Zusammenhang so offensichtlich wie bei der fortgesetzten Erpressung Europas durch die türkische Regierung, die skrupellos die von der eigenen Einmischung im Nachbarland Syrien ausgelösten und ermunterten Wanderungsströme instrumentalisiert, um Deutschland und der EU weitreichende Zugeständnisse abzutrotzen, von enormen Geldforderungen bis zur beschleunigten Visafreiheit und EU-Aufnahme, die ihr für die Zukunft noch ganz andere Möglichkeiten zum Einsatz der „Migrationswaffe“ eröffnen.

Die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Kelly M. Greenhill hat den Begriff der „Massenmigrationswaffe“ in den politischen Diskurs eingeführt. Im Original ihres vor fünf Jahren erschienenen Werkes – „Weapons of Mass Migration“ – hat der Terminus kaum zufällig starke Anklänge an den geläufigen englischen Begriff für „Massenvernichtungswaffen“. Beide funktionieren bereits über ihr beträchtliches Droh- und Erpressungspotential; und beide sind geeignet, eine politische Dynamik zu entfalten, die weder die Auslöser noch die Betroffenen kontrollieren können.

Aktueller und brisanter hätte die deutsche Ausgabe der „ersten umfassenden Analyse und Darstellung“ dieser „besonderen Form des nichtmilitärischen Zwanges“ in der internationalen Politik also kaum erscheinen können. Greenhill weist durch die Analyse von etwa 60 Fällen seit 1951 nach, daß die strategische Instrumentalisierung von Flüchtlingen und Immigranten als geopolitisches Druckmittel weltweit verbreitet ist und in der Regel weitaus mehr Erfolg verspricht als militärische Drohungen – in fast Dreiviertel der von Greenhill aufgeführten Fälle führte die Auslösung, Ausnutzung oder Androhung von Massenmigrationen zumindest teilweise zum Ziel.

Nicht jedes der von Greenhill kategorisierten Beispiele überzeugt; daß Konrad Adenauer nach dem 17. Juni 1953 von den USA mit Hinweis auf die anschwellenden Übersiedlerströme aus der DDR Finanzhilfen verlangt und erhalten habe, um einer vermeintlich vom Ostblock beabsichtigten Destabilisierung der Bundesrepublik zu begegnen, ist eher spärlich belegt. 

Libyens Machthaber Muammar al-Gaddafi, dem es 2004 gelungen war, von den Europäern im Gegenzug für das Versprechen, die rasant anschwellenden Einwandererströme aus Afrika einzudämmen, die Aufhebung der seit Jahrzehnten bestehenden Sanktionen zu erreichen, steht für die Janusköpfigkeit der Migrationswaffe; seinen Sturz konnte er mit der – im übrigen eingetretenen – Drohung, dann komme auf Europa eine neue Immigrantenflut zu, sieben Jahre später nicht mehr abwenden.

Ähnlich wie Gaddafi erging es dem haitianischen Diktator Aristide, der die mehrfach erfolgreich gegen die USA eingesetzte Flüchtlingsdrohung schließlich überreizt hatte und durch eine US-Intervention gestürzt wurde. Auch Serbiens Präsident Slobodan Miloševic konnte in der Kosovo-Krise die Militärschläge der Nato durch die Drohung mit unkontrollierbaren Flüchtlingsströmen nicht abwenden. 

Dagegen war es dem kubanischen Castro-Regime mehrfach gelungen, von den USA mit der Drohung einer Grenz-öffnung Zugeständnisse zu erzwingen und insbesondere die Regierung Carter massiv in Verlegenheit zu bringen. Die nordkoreanische Militärdiktatur wiederum verdankt in Greenhills Darstellung ihr langes Überleben nicht zuletzt der Tatsache, daß China und Südkorea sich Bestrebungen koreanischer Wiedervereinigungsaktivisten, das Regime in Pjöngjang, ähnlich wie das SED-Regime, durch Massenflucht zum Einsturz zu bringen, konsequent verweigerten.

Westlich-liberale Demokratien, konstatiert die US-Wissenschaftlerin, sind durch die Massenmigrationswaffe besonders verwundbar. Denn solche Gesellschaften sind zum einen pluralistisch und transparent; das Handeln ihrer Regierungen wird von der Öffentlichkeit schärfer hinterfragt. Einwanderung löst in solchen Gesellschaften regelmäßig Konflikte zwischen Befürwortern und Gegnern aus. Ob die Furcht vor negativen Folgen von Masseneinwanderung objektiv berechtigt ist, spielt dabei laut Greenhill keine Rolle: Das „wahre demokratische Prinzip“, zitiert sie den 1974 verstorbenen marxistischen Einwanderungstheoretiker Oliver Cromwell Cox, bestehe darin, daß die Bürger „nicht zu etwas gezwungen werden wollen, was sie nicht mögen“.

Sprengstoff steckt in Greenhills Feststellung, daß die Stärkung internationaler und völkerrechtlicher Normen zum Schutz von Flüchtlingen und Migranten das Auslösen von Migrationsbewegungen durch interessierte Akteure wesentlich erleichtert habe. Unter Berufung auf solche Normen werden die Einwanderungslobbies in westlichen Gesellschaften mitunter zur „fünften Kolonne“ der Migrationswaffe. 

Das Mißverhältnis zwischen humanitären Deklarationen und tatsächlichem Staatshandeln verlangt den Regierungen beträchtliche „Heucheleikosten“ ab, wie es in der mitunter holprigen und von wörtlich übersetzten Anglizismen beeinträchtigten deutschen Übersetzung heißt, die ihnen bei der Abwehr der „Migrationswaffe“ im Wege stehen. Wer sich auf einen allzu hohen moralischen Sockel stellt, macht sich besonders angreifbar – ein Resümee, das nicht nur Angela Merkel ins Stammbuch zu schreiben wäre. 

Während das Erscheinen des US-Originals einer breiteren Öffentlichkeit immerhin noch durch ausführliche Besprechungen wie in der FAZ angezeigt wurde, wird die deutsche Ausgabe trotz dramatisch gesteigerter Aktualität in den etablierten Leitmedien praktisch ignoriert. Das ist bedauerlich, denn Greenhills Buch will ausdrücklich auch ein „Werkzeugkasten“ sein, um politischen Entscheidern Wegweisung bei der Abwehr von Angriffen mit der „Migrationswaffe“ zu geben. 

Aus den von ihr untersuchten Präzedenzfällen leitet Greenhill eine ganze Palette von Verteidigungsstrategien ab. Am einen Ende steht die Beseitigung der Bedrohung durch Intervention und Regimewechsel, die freilich für komplexe Situationen wenig taugt. Andererseits können Regierungen auch „das Spiel spielen, aber die Regeln beherrschen“, heißt: rechtzeitig entgegenkommen, bevor der Preis zu hoch wird. 

Oder aber sie versuchen die Migrationswaffe zu entschärfen, indem sie das Zielland durch Sozialanreize unattraktiv machen oder indem die Regierenden Widerstände gegen Massenimmigration in der eigenen Gesellschaft durch „Überzeugung“ abbauen – ein Mittel, das in Deutschland derzeit trotz bis zur Gehirnwäsche gesteigerter „Antirassismus“-Propaganda an seine Grenzen stößt. Eine weitere Option ist, die Migrationsströme „weiterzureichen“, andere Aufnahmeländer zu unterstützen und die Unterbringung in den Heimatregionen zu fördern. 

Einen dritten Weg, das Hinwegsetzen über internationale Normen im nationalen Eigeninteresse, praktiziert die australische Regierung mit Erfolg. Einfach die Grenzen zu öffnen und unbeschränkte Aufnahmebereitschaft zu signalisieren ist jedenfalls die am wenigsten kluge Lösung. Das führe dazu, erklärte die Autorin kürzlich in einem Interview zum Asylansturm auf Deutschland, daß man „auch solche Menschen mobilisiert, die normalerweise in ihren Herkunftsländern geblieben wären“.

Kelly M. Greenhill: Massenmigration als Waffe. Vertreibung, Erpressung und Außenpolitik. Kopp Verlag, Rottenburg 2016, gebunden, 432 Seiten, 22,95 Euro