© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

Am Ende vertragen sich immer alle wieder
Die Parole von der Stammtischparole ist selber eine: Die gesellige Runde ist beliebt wie nie und ein Ort der Toleranz
Bernd Rademacher

In den Kleinanzeigen lokaler Blätter begegnet man einer urdeutschen Tradition, die sich trotz des Zeitgeistes einer anscheinend sogar wachsenden Beliebtheit erfreut: dem Stammtisch! Obwohl der Stammtisch als Stereotyp in etwa gleichauf mit dem Schrebergarten und Dackelzuchtverein rangiert, ist seine Kultur quicklebendig: In Inseraten suchen der Elternstammtisch, der Veganer-Stammtisch, der Rollenspieler-Stammtisch und, ach nein, sogar ein Sadomaso-Stammtisch interessierte Mitglieder.

Dabei ist „der Stammtisch“ derzeit vor dem Hintergrund der aktuellen „Flüchtlingskrise“ und dem Wahlkampf der AfD als rhetorische Keule in Dauergebrauch. In der politischen Schlammschlacht zählt die „Stammtisch-Parole“ zu den dicken Böllern, mit denen man die Meinung des Gegners als primitiv und radikal abqualifiziert. Die Steigerung ist die „dumpfe Stammtischparole“. In der Vorstellungswelt seiner ständigen Anwender ist der Stammtisch düstere Brutstätte und gefährlicher Reaktor von Ressentiments alter Männer, so braun wie die Soße zum Schweinebraten.

Die Hälfte der Stammgäste sind Frauen

Eigentlich ist diese linke Schmähung der Stammtischkultur paradox, denn der Stammtisch ist eine vor allem linke Tradition. Schon Marx und Engels machten um 1840 Revolution auf dem Bierdeckel in der Berliner Kneipe „Hippel“. Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie sind ohne ihre subversiven Stammtische gar nicht denkbar, an denen sich das linke Volksempfinden auflud. In Verruf geriet die Einrichtung erst durch distinguierte Intellektuelle, die in der bürgerlichen Eckkneipe ein Biotop für reaktionäre Ansichten sahen. Im schwiemeligen „Bierdunst“, so das Klischee, entstehe ein Nährboden für „Rübe ab!“-Sprüche. Doch zu Unrecht! Der deutsche Stammtisch ist nämlich ganz anders als sein Ruf!

Eine bis dato letzte wissenschaftliche Untersuchung von Infratest Dimap brachte überraschende Ergebnisse: Demnach trifft sich etwa ein Drittel der Erwachsenen regelmäßig zu einer Stammtischrunde, davon fast die Hälfte Frauen. Tendenz auch bei jüngeren Leuten steigend. Alter und Parteienaffinität spiegeln den Durchschnitt der Bevölkerung wider. Das zeigt sich auch in der politischen Debatte: Es wird leidenschaftlich über Politik gesprochen, wobei die Meinungen so unterschiedlich sind wie die Stammtischteilnehmer. Fazit der Studienurheber: „Der Stammtisch ist eine differenzierte Institution der politischen Meinungsbildung, die in ihrer Vielfalt nur schwer in gesellschaftliche Raster zu fassen ist.“

Moderatere Positionen als im Gesamtdurchschnitt

Nur eines wurde nachgewiesen: Anhänger extremistischer Parteien wie Linke oder NPD sind lediglich zu zwei Prozent am Stammtisch vertreten. Im Vergleich sind die Positionen sogar leicht moderater als im Gesamtdurchschnitt. Die Runde neigt eher dazu, sich zu regulieren, statt aufzuschaukeln. Das liegt auch an der Zusammensetzung: Hier stoßen Akademiker, Handwerker, Angestellte und Unternehmer miteinander an. So öffnet der Stammtisch den eigenen Blick über den Rand des Bierglases. Bei aller gelegentlichen Hitzigkeit der Diskussion: Am Schluß vertragen sich immer wieder alle. So ist der Stammtisch sogar ein Ort der Toleranz.

Übrigens: Die Forderung nach der Todesstrafe, sozusagen „die Mutter aller Stammtischparolen“, wird nur von rund einem Drittel der Befragten befürwortet, was der Zustimmung in der Gesamtbevölkerung entspricht. Am Stammtisch sind jedoch überwiegend die Frauen dafür (37 Prozent). Von wegen „Stammtischbrüder!“

Die oft zitierte „Lufthoheit über den Stammtischen“ wird von Politikern überbewertet. Die hätten sie wohl selber gern. Nur ein Fünftel der regelmäßigen Teilnehmer läßt sich durch die Kneipendebatten in seinem politischen Urteil oder gar seiner Wahlentscheidung beeinflussen. Regional gibt es keine Stammtisch-Hochburgen, die Verteilung ist im ganzen Land gleichmäßig. Der Stammtisch, eine kulturelle Festung. Leider gibt es keine neuere demoskopische Untersuchung dazu, doch eins ist sicher: Die Parole von der Stammtischparole ist selber eine!