© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

Konstanten des Unrechts
Literatur: Ilija Trojanow über Täter und Opfer unter totalitärer Herrschaft
Felix Dirsch

Nach 1989/90 mußten die Staaten des Ostblocks ähnliche Erfahrungen machen wie Deutschland nach dem Ende des NS-Systems. Überall wurden Wege gesucht, mit den Aktenbergen der Geheimpolizei fertigzuwerden. Fragen tauchten auf, wie die Opfer der alten Mächte rehabilitiert und die Täter gegebenenfalls bestraft werden können. In fast allen Ländern mit diktatorischer Vergangenheit heißt es im nachhinein, Verbrechen, die unter dem alten Regime geschehen sind, seien nach dem Zusammenbruch der totalitären Herrschaft zu lax abgeurteilt worden. Lassen sich im Rahmen solcher Versuche der „Vergangenheitsbewältigung“ vergleichbare Muster feststellen?

Ein derartiges Unterfangen hat jüngst der Schriftsteller Ilija Trojanow begonnen. 1965 in Sofia geboren, flüchtete die Familie 1971 nach Deutschland. Einige Jahre hat er in der Bundesrepublik verbracht. Seit geraumer Zeit macht er als Sachbuchautor, etwa zusammen mit Julie Zeh über Probleme zunehmender Überwachung („Angriff auf die Freiheit“, 2009), wie als Romancier auf sich aufmerksam.

Sein aktuelles Werk ist eine Verbindung von belletristischer Darstellung und zeithistorischer Dokumentation. Immer wieder werden Auszüge aus Protokollen der Geheimpolizei präsentiert. Trojanow erweist sich als intensiver Chronist der bulgarischen Geschichte in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Die fehlende Zeitzeugenschaft kompensiert er mit intensivem Aktenstudium. Herausgekommen ist eine Collage, die sich sehen lassen kann.

Der Aufbau des Romans ist verständlich. Der Autor greift sich zwei Charaktere heraus, die individuell diametral verschiedene Typen verkörpern. Diese finden sich unter jedem Gewaltregime: Genannt werden sie Konstantin und Metodi. Seit ihren Jugendzeiten in den 1940er Jahren sind ihre Lebensläufe miteinander verwebt. Abwechselnd beschreibt der Verfasser Erlebnisse und Sichtweisen des einen, dann die des anderen. So ist der Leser gezwungen, sich einmal in die Perspektive des „Guten“, dann wieder in die des „Bösen“ hineinzuversetzen, und das in schöner Regelmäßigkeit weit über ein halbes Jahrhundert hinweg.

Während Konstantin sich früh als Widerständler gegen die Regierung betätigt, geht Metodi den entgegengesetzten Weg. Letzterer wird Offizier und Teil des Machtapparates. Durch die Ehe mit der Tochter des Staatschefs kann er Karriere in der bulgarischen Staatssicherheitspolizei machen. Wie fast alle kleinen Handlanger des Terrors sieht er sich nach dem Ende des Unrechtsregiments als dessen Opfer. Immerhin muß er sich eindringlich mit der Vergangenheit beschäftigen, als er einer jungen Frau begegnet, die behauptet, seine Tochter zu sein. Konstantin verschwindet bereits früh für Jahre hinter Gittern. Er wird nach einem Attentat verurteilt. Ausschlaggebend ist seine „reaktionäre“ Gesinnung.

„Ich will weder vergessen noch vergeben“ 

Symptomatisch für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Osteuropa ist die Möglichkeit, in die Rolle des Wendehalses zu schlüpfen. Die Partei, der man angehört, nennt sich nicht mehr kommunistisch. Sie agiert nunmehr als sozialistische Kraft. So läßt sich doch einiges in die neue Zeit hinüberretten, während anderes Gedankengut als überflüssiger, überholter Ballast abgeworfen werden kann. Bei Metodi lautet einer der Schlüsselsätze: „Jetzt quatschen alle darüber, wie wichtig Informationen sind, das Erdöl des 21. Jahrhunderts undsoweiter undsoweiter, das haben wir längst gewußt, wir waren die Brille, die Lupe, das Fernglas für die Führung des Landes, für jeden, der was zu entscheiden hatte. Was soll diese Polarisierung heute? Wie einer zur Vergangenheit steht, hängt vom Parteibuch ab. Weil du dich Demokrat schimpfst, mußt du die Staatssicherheit schlechtmachen. Unser Beruf war ’n technischer, wir waren soziale Mechaniker, so sollte es heißen.“

Welche Sicht nimmt das Opfer der Repressionen ein? Konstantin ist kurz und bündig: „Ich will weder vergessen noch vergeben. Was sie mir angetan haben, das kann ich ihnen nachsehen. Was sie der Gesellschaft angetan haben, das werde ich ihnen niemals verzeihen.“

Alte Kader können in der Realgeschichte trotz ihrer unstrittigen Irrtümer siegen. Die Historie etlicher Länder Osteuropas im letzten Vierteljahrhundert ist voll von solchen Entwicklungen. In Trojanows Erzählung scheinen die moralisch Besseren letztlich zu gewinnen. Ende gut, alles gut? So einfach ist es dann doch nicht. Konstantin wird einige Zeit nach der Wende zum Kandidaten der „Vereinigten Demokratischen Kräfte“ für die neu geschaffene Kommission für die Archive der Staatssicherheit bestimmt. Umgehend erscheint ein Bericht, in dem es heißt, der Bewerber habe Gräben aufgerissen und müsse als umstritten gelten. Ein Hinweis auf die noch vorhandene Macht der alten Kräfte?

Immerhin bemüht sich der Autor, der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Die strenge Dualität bleibt bis zum Schluß. Der einstige Häftling erscheint auf der Beerdigung des früheren Folterers und zeitlosen Opportunisten – und ruft ihm seine Schandtaten ins Grab hinein. Der Roman endet mit einer zeitlose Lehre, die der Verfasser fast schon volkspädagogisch herausstellt: „Du hast keine Überzeugung, wenn du nicht bereit bist, für sie zu sterben.“

An Trojanows Erzählung kann man manches beklagen, etwa die Bestätigung vieler Klischees. Absolut Gutes gibt es in der Politik sowenig wie absolut Böses. Die Wahrheit liegt in den Zwischentönen. Dennoch gibt er einen lesenswerten Einblick in die Mechanismen totalitärer Herrschaftssysteme aus der Perspektive von Tätern und Opfern. Er will uns in der Quintessenz sagen: Wenn du Angst hast, hat der Andere schon gewonnen, und diese Erkenntnis ist tatsächlich von ewiger Gültigkeit.

Ilija Trojanow: Macht und Widerstand. Roman, S. Fischer, Frankfurt am Main 2015, gebunden, 477 Seiten, 24,99 Euro