© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

Noch ist die Ukraine nicht gestorben
Die Ukraine zwei Jahre nach der „Revolution der Würde“: Die alten Strukturen, Korruption, Oligarchenherrschaft und schlechtes Regieren behindern sinnvolle Reformen und Wirtschaftsaufschwung
Thomas Fasbender

Alexandra Melnyk ist aufgebracht: „Idioten regieren dieses Land.“ Die Kiewerin wohnt in einem schäbigen Vorort der Hauptstadt, fernab vom Zentrum mit seinen schicken Cafés und Geschäften. Besäße sie nicht zwei Vollzeitstellen, reichte das Geld für sich und die Kinder niemals bis zum Monatsletzten. Buchweizen, Milch, Eier, Reis, Gas, Strom und Wasser, alles ist in den letzten Monaten teurer geworden. Was die Inflation – im Vorjahr über 40 Prozent – nicht auffrißt, das fällt den Reformen zum Opfer, die der Weltwährungsfonds für seine Milliarden verlangt.

In den Ohren der einfachen Leute wie Alexandra Melnyk, deren Leben für den Erhalt der Familie draufgeht, klingen die Parolen des Maidan nur noch wie Hohn: Würde, Freiheit, Demokratie. Wenn etwas die junge Generation mobilisiert, dann das ukrainische Nationalgefühl, das sich, je weiter westlich man im Lande herumkommt, mit um so mehr Härte gegen alles Russische richtet.

Realeinkommen sanken 2015 um 21 Prozent

Im Mai 2014 schrieb die US-amerikanische Publizistin Anne Applebaum, Nationalismus sei „exakt, was die Ukraine braucht“. Der britische Politikprofessor Richard Sakwa („Frontline Ukraine“, 2015) hingegen sieht im Nationalismus den Grund für die Spaltung der ukrainischen Gesellschaft. Die Suche nach Identität in Abgrenzung von Rußland, so Sakwa, sei auch das Motiv hinter der proeuropäischen Gesinnung vieler ukrainischer Politiker – nicht das Bekenntnis zu Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit.

Der auf dem Maidan wiedererwachte ukrainische Nationalismus bleibt jedenfalls im Zentrum der Diskussion. So geriet die Oscar-nominierte Dokumentation „Winter on Fire“ des Regisseurs Jewgeni Afinejewski wegen angeblicher Verharmlosung der Rolle des „Rechten Sektors“ in die Kritik. In einem Interview mit dem Sender Radio Liberty sagte Afinejewski: „Wissen Sie was? Der ‘Rechte Sektor’, die haben für alles genauso gekämpft wie die anderen auch. Die waren ein Teil der Menschen dort.“

Im Fall der Doku „Masken der Revolution“, die Anfang Februar im französischen Fernsehen lief, kam die Kritik aus Kiew. Der Film beleuchtet die Rolle rechter Kräfte auf dem Maidan und in Odessa Anfang Mai 2014. Bis zuletzt versuchte die ukrainische Botschaft in Paris, seine Ausstrahlung zu verhindern.

Zwei Jahre nach der „Revolution der Würde“ stellt sich die wirtschaftliche Lage als verheerend dar. Um 21 Prozent sanken die Realeinkommen im Vorjahr. Die ukrainische Währung Griwna verlor über die Hälfte ihres Werts. 2014 schrumpfte die Wirtschaftsleistung um 6,8 Prozent, 2015 um weitere 9,5 Prozent. Inzwischen sieht die Regierung Hoffnungszeichen und prognostiziert ein Wachstum von einem Prozent im ersten Halbjahr.

Seit Januar gilt ein gegenseitiges Lebensmittel- und Warenembargo zwischen Rußland und der Ukraine. Der zuvor existierende Freihandel wurde eingestellt; dafür nimmt die Ukraine jetzt am EU-Freihandel teil. Die Hoffnungen allerdings, die Gewinne aus der EU-Integration würden die Verluste aus dem Wegbrechen des Rußlandhandels kompensieren, haben sich bislang nicht erfüllt.

Der Bürgerkrieg, der in hohem Maße auch ein Stellvertreterkrieg zwischen Rußland und dem Westen ist, wird auf dem Rücken der kleinen Leute ausgetragen – auf beiden Seiten. Und der Krieg ist teuer: Um 50 Prozent sind die Ausgaben für Militär und Sicherheit 2015 gestiegen. Die militärischen Zuwendungen aus dem Westen sind dabei noch gar nicht berücksichtigt. Eka Sguladse, die aus Georgien „ausgeliehene“ stellvertretende Innenministerin, bedankte sich kürzlich für die „schönen neuen Polizeiuniformen aus den USA und Kanada“. 2016, fügte sie hinzu, werde das verfügbare Geld allenfalls für gesteigerte Soldzahlungen reichen.

Die soziale Schere klafft derweil weit auseinander. 80 Prozent des ukrainischen Volksvermögens, so wird geschätzt, befinden sich in der Hand von 100 Personen. Mächtige und reiche Oligarchen-Clans, nach Regionen (Dnepropetrowsk, Odessa, Lviv und Donezk) gegliedert, teilen sich die Herrschaft mit der Kiewer Regierung. Richard Sakwa erkennt einen Grund dafür im Fehlen föderaler Strukturen im Staatsaufbau. Die Hauptstadt Kiew ist aus der Geschichte heraus zu schwach, um den Regionen gegenüber als Zentralmacht aufzutreten. Was laut Verfassung nicht vorgesehen ist – regionale Autonomie und Selbstverwaltung –, bildet sich dann in Form mächtiger Clan-Strukturen in der Halblegalität.

Oligarchenherrschaft, Korruption und mangelnde Rechtsstaatlichkeit prägen das Land seit der Unabhängigkeit. Daß sich daran seit dem Kiewer Umsturz nichts geändert hat, machte der Rücktritt des Wirtschaftsministers Aivaras Abromavicius im Februar deutlich. Unverblümt sprach er von einer „Blockade jedweder systemischer und wichtiger Reformen“ im Land und warf Personen im Umfeld der Staatsführung vor, sich die Kontrolle über einträgliche Finanzströme unter den Nagel zu reißen. Ausdrücklich nannte er den Namen des Präsidenten-Intimus und Fraktionsvorsitzenden Ihor Kononenko. Der habe sogar versucht, „eigene“ stellvertretende Minister zu installieren. Ein Kandidat sei mit vorbereiteten Ernennungsdokumenten bei Abromavicius erschienen und habe gesagt: „Ich bin Ihr neuer Stellvertreter. Ich gehöre zum Kononenko-Team, meine Kandidatur ist von oben abgesegnet.“

Solche Anschuldigungen sind um so delikater, als Abromavicius zu den vom Westen protegierten Kabinettsmitgliedern gehörte, die erst wenige Stunden vor ihrem Amtseid 2014 die ukrainische Staatsbürgerschaft erhielten: außer dem kein Ukrainisch sprechendem Litauer Abromavicius der aus Georgien stammende Gesundheitsminister Aleksandre Kwitaschwili und die 1965 in Illinois geborene Finanzministerin Natalie Jaresko.

Unter dem Titel „Verbreitetes Eliten-Versagen gefährdet die Reformpolitik“ beschäftigte sich die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) im Februar mit der Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine. Bislang, so die SWP, seien die Fortschritte in der Richtung minimal. Um die „erfolgreiche Überführung der Ukraine in westliche Strukturen“ sicherzustellen, müsse dringend der Einfluß etablierter Seilschaften und korrupter Netzwerke in der Bürokratie und in Teilen der politischen und wirtschaftlichen Elite zurückgefahren werden.

Intransparente Vorgänge in Politik und Justiz

Ein Beispiel für die von der SWP ebenfalls bemängelte Intransparenz in Politik und Rechtsprechung bot das gescheiterte Mißtrauensvotum gegen Premierminister Arsenij Jazenjuk im Februar. Ihm vorausgegangen war eine mehrheitlich verabschiedete Parlamentsresolution mit dem Ziel, die Regierung zu mehr Reformeifer anzuspornen. Diese Resolution wurde auch vom Westen unterstützt. Als wenige Minuten später das vom Präsidenten initiierte Mißtrauensvotum gegen den Premier anstand, war plötzlich ein großer Teil der Abgeordneten nicht mehr im Saal. Jazenjuk blieb im Amt – wenn auch deutlich geschwächt, da Julia Timoschenkos Vaterlands- und die westukrainische Selbsthilfe-Partei empört die Regierungskoalition verließen. Der Politologe Wladimir Fesenko, Chef der Kiewer Denkfabrik Penta, sagte dem ukrainischen Radiosender Obosrewatel, vor dem Votum sei ein Deal ausgehandelt worden, den Washingtoner Favoriten Jazenjuk erst abzusetzen, nachdem der IWF die nächste Kredittranche überwiesen haben würde. Nach Abromavicius’ Rücktritt hatte IWF-Chefin Christine Lagarde den Transfer der ausstehenden Milliarden vorerst gestoppt.

Rechtsstaatlich fragwürdig ist auch die Aufarbeitung der Vorgänge um den 20. Februar 2014 – vor allem die Suche nach den Verantwortlichen für die Toten des Maidan – und der Vergehen des Janukowitsch-Regimes. Allem Anschein nach wird die Praxis der Abrechnung mit Vertretern abgesetzter Regierungen, wie sie seinerzeit die in Ungnade gefallene „Gasprinzessin“ und Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko zu spüren bekam, unter der Präsidentschaft Petro Poroschenkos fortgeführt.

So wird gegen Janukowitschs letzten amtierenden Premierminister, Sergej Arbusow, in Kiew derzeit in dessen Abwesenheit verhandelt. Arbusow war bis 2012 Zentralbankchef. In jener Zeit betrieb die Zentralbank gemeinsam mit der US-amerikanischen Agentur Bloomberg den ukrainischen Spartenkanal Bank-TV (BTB). Über die Jahre kostete das die Bank gut zehn Millionen Euro. Jetzt wirft das Gericht Arbusow, der inzwischen in Moskau lebt, vor, bei dem Projekt habe es sich um strafbaren Mißbrauch staatlicher Mittel für private Zwecke gehandelt. Im September 2014 war er beschuldigt worden, 49 Millionen US-Dollar auf lettischen Konten zu horten. Ende 2015 teilte die Regierung in Riga offiziell mit, Lettland habe Arbusow nichts vorzuwerfen. Lettische Banken bestätigten, die angeblichen Konten existierten nicht. Im Januar 2016 entschied der Europäische Gerichtshof in Luxemburg, daß das im März 2014 auf Antrag der Kiewer Regierung erfolgte Einfrieren der EU-Vermögenswerte von vier hochrangigen Vertretern des alten Regimes, darunter auch Sergej Arbusow, nicht rechtens war.

Im Dezember appellierte US-Vizepräsident Joe Biden in Kiew an die ukrainischen Abgeordneten: „Es kann Ihre letzte Chance sein. Um unser aller Willen nutzen Sie sie.“ Seither ist die Lage deutlich enger geworden. Die Kiewer Regierungsmehrheit hängt an den Stimmen der linkspopulistisch-nationalen Radikalen Partei. Eine Reformpolitik nach IWF-Vorgaben ist schon nicht mehr umsetzbar. Neuwahlen würden die Nationalisten und die prorussischen Parteien stärken. Die im Minsker Abkommen vorgesehene Autonomie für den Donbass wird von den Nationalisten im Parlament und außerhalb blockiert.

Der ukrainischen Zeitung Segodnja sagte der CDU-Außenpolitiker Karl-Georg Wellmann Ende Februar, das „Schicksal der Ukraine“ sei Europa. Eine „neue Strategie zur Stabilisierung und Entwicklung“ des Landes sei in Arbeit, eine „Strategie mit wesentlich größerem finanziellen und politischen Einsatz. Etwas ganz Neues und eine Ergänzung des Assoziierungsabkommens“. Es handele sich um einen „Marshallplan“ zur Wiederbelebung der ukrainischen Wirtschaft, der Regierbarkeit, des Rechtssystems und so weiter. Wenn ein solcher „Marshallplan“ irgendwann einsetze, so Wellmann, dann „nur unter voller Kontrolle und Überwachung“. Den letzten Satz ergänzte die ukrainische Zeitung mit den Worten „seitens Deutschlands“.





Fakten zur Ukraine

? 44,4 Mio. Einwohner (einschließlich Halbinsel Krim mit 1,9 Millionen)

? Rund 17 Prozent russischstämmige Minderheit vor allem im Osten und auf der Krim Unabhängigkeitserklärung von der Sowjetunion 1991, Nationalfeiertag 24. August

?Nationalhymne „Noch sind der Ukraine Ruhm und Freiheit nicht  gestorben“ von 1863, mit Anklägen an die polnische „Noch ist Polen nicht verloren“. Betont den Mythos brüderlichen Zusammenlebens im Kosakenstaat. Melodie von dem bei Premissel (Przemysl) geborenen Priester Michailo Werbizki (1865) Wirtschaftlich prekär; neben Kirgistan einzige Ex-Sowjetrepublik, deren Wirtschaftsleistung noch unter der von 1991 liegt. Minuswachstum 2015: 9,5 Prozent (drittletzter Platz vor Sierra Leone und Jemen)

Niedrigstes Durchschnittsgehalt in Europa (nach Weißrußland und Moldawien)

? Geburtenrate: 1,5 Kinder je Frau ? BIP pro Kopf 2013: 4.435 Dollar ? BIP pro Kopf 2015: 2.109 Dollar 

? Arbeitslosigkeit 2015: 9,3 Prozent 

März 2014: Annexion der Krim durch Rußland; aufgezwungener Kriegdurch Invasion russischer Truppenin zwei östliche Bezirke

Foto: Die Strukturkrise ist überall sichtbar: Eine betagte Seniorin, die ihre kümmerliche Rente durch Verkauf von selbstgezogenem Gemüse aufbessern muß und trotzdem nicht über die Runden kommt