© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

Die Demokratie lebt
Mit der AfD gibt es plötzlich eine meßbare politische Opposition / Gelingt die Etablierung?
Dieter Stein

Mit demonstrativ stoischer Gelassenheit tritt die CDU-Chefin und Bundeskanzlerin Angela Merkel am Montag im Konrad-Adenauer-Haus vor die Presse. Ihrer regungslosen Miene ist nichts zu entnehmen, was auf das historische Wahldesaster hindeutet, das ihre Partei am Sonntag erlebt hat. Sie wird registriert haben, daß es potentielle Thronerben waren, die da im Südwesten baden gegangen sind und ihr damit weniger gefährlich werden können. Merkel präsentiert sich als das Auge im Taifun und nicht diejenige, die den Sturm selbst verursacht hat. In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz stürzte die CDU auf das schlechteste Ergebnis seit Gründung der Bundesrepublik 1949, die AfD zog indes in drei Bundesländern mit zweistelligen Ergebnissen in die Parlamente. 

Konrad Adenauer war in den Anfangsjahren der Republik das Kunststück gelungen, mehrere konservative Parteien zu umarmen und aufzusaugen. Mit einem domestizierten konservativen Flügel und einer Arbeitsteilung zwischen CDU und CSU schien die Parole von Franz Josef Strauß in Erz gegossen, es werde „rechts von der Union“ keine Partei mehr emporgelassen. Schon unter Helmut Kohl kam es aber zur Erosion des konservativen Flügels, gab es erste Anläufe, das wachsende Vakuum im Parteienspektrum mit Alternativen zu füllen. CDU-Chefin Merkel vergrößerte mit der von ihr in die Wege geleiteten Linksdrift der CDU noch einmal die Lücke für eine solche neue Partei. Die unter Rechtsbrüchen aus dem Ruder laufende Eurorettungspolitik der Kanzlerin war Initialzündung für die AfD und begründete ihre ersten Erfolge. Die wie beim Euro Recht und Gesetz erschütternde Politik der unkontrollierten Grenzöffnung im Zuge der Asylkrise sorgte nun für die erdrutschartigen Erfolge der AfD.

Was ist denn das auch für ein Bundestag in Berlin, in dem bei zwei für das Gemeinwesen vitalen Fragen – der Sicherung der Währung und der Hoheit über die Grenzen und damit der Staatlichkeit der Nation – keine wahrnehmbare Opposition im Parlament existiert? Der parteiinternen CDU-Opponentin und Abgeordneten Erika Steinbach platzte am Wahltag der Kragen, als sie via Twitter beklagte, daß der Bundestag „seit September“ nicht über die Politik der Grenzöffnung abgestimmt habe, das sei „wie in einer Diktatur!“

Die Erschütterung bei den „im Zweifel linken“ Meinungseliten ist nun groß: In allen drei Bundesländern gibt es faktisch keine rot-grünen, geschweige rot-rot-grünen Mehrheiten. Es zeigt sich, daß die Differenzierung des parteipolitischen Angebotes plötzlich zu Wahlergebnissen führt, die – politischen Willen vorausgesetzt – zu neuen bürgerlichen Mehrheiten führen könnten.

Wie einst bei den Grünen in ihrer turbulenten und von Richtungskämpfen gezeichneten Aufbauphase stehen der AfD nun, gesteigert durch die Last der großen Wahlerfolge, die Mühen der Professionalisierung bevor. Entpuppen sich die neuen Fraktionen als Panoptikum verkrachter Existenzen und Sektierer, erliegen die Neupolitiker den materiellen Versuchungen, erstickt ein Geist der Verbeamtung den Idealismus der Basis? Die AfD hat einen riesigen Vertrauensvorschuß erhalten. Es wird sich zeigen, ob diese historische Chance erkannt oder verspielt wird.

Holger Steltzner prognostiziert der CDU in der FAZ das Schicksal der SPD, also den dauerhaften Absturz unter 30 Prozent, sofern die AfD „parlamentarische Oppositionspartei ernst nimmt, sich von Rechtsradikalen trennt und ihr Spitzenpersonal gemäßigt auftritt“. Für die Ausrichtung der Partei von großer Bedeutung werden die zwei westdeutschen Fraktionen in den wichtigen Flächenstaaten Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sein. Die AfD ist jetzt endgültig kein „Ost-Phänomen“ mehr. Beim Ende April anstehenden Bundesprogrammparteitag in Stuttgart wird sich zeigen, wie aus groben Leitlinien deutlichere Konturen entstehen.  

Es ist zu kurz gegriffen, im Zusammenhang mit dem AfD-Erfolg oberflächlich von einem „Rechtsruck“ zu sprechen. Die AfD ist zum Adressaten einer aus allen politischen Lagern gespeisten Absetzbewegung unter Bürgern geworden, die empört, verunsichert sind von der Fahrt in eine Nebelwand, die die CDU-Kanzlerin verantwortet. Frank Plasberg gelang es in seiner Sendung „Hart aber fair“ am Montag, eine bemerkenswerte, scheinbar nicht ins Klischee passende AfD-Wählerin aus Rheinland-Pfalz ins Studio einzuladen. Sie habe früher grün gewählt, erklärte sie. Sie schilderte ihre Zerrissenheit, keine politische Heimat mehr zu haben, und traf damit den Kern einer weitverbreiteten Stimmung. Sie sei „nicht islamophob“, betonte sie, nicht fremdenfeindlich, der entscheidende Punkt sei: Frau Merkel könne „nicht vermitteln, wohin die Reise“ in Deutschland gehe. Der Kernsatz der bedächtig sprechenden Dame: „Was hat sie mit uns vor?“ Und sie schloß: „Es wird Rückgrat gefordert, also mache ich das auch. Wir sind doch nicht bloß Stimmvieh!“ 

Damit rührte diese Bürgerin an den emotionalen Kern, der für ein noch nicht ausformuliertes Ethos der jungen politischen Kraft stehen könnte: den Einsatz für eine Repolitisierung der Debatte, die Wiederinkraftsetzung echter demokratischer Entscheidungen, die Rückgewinnung der Demokratie durch den Souverän, das Volk. Und so ist das Bemerkenswerte dieser Wahl auch der sprunghafte Anstieg der Wahlbeteiligung. Lange Jahre war sie kontinuierlich gesunken. Lähmende Langeweile, der Mehltau einer gespenstischen Monotonie, eines stickigen Zwangskonsenses lag über dem Land, umschloß eine abgehobene politisch-mediale Klasse das Publikum mit dem Dämmschaum politischer Korrektheit. Die Bürger haben den von oben verordneten Konsens satt und begehren dagegen auf. 

So ist der größte Sieger dieser Wahl die Demokratie selbst. Mitten in einer schweren politischen Krise zeigt sich, daß das politische System der Bundesrepublik durchlässig ist für eine sich verändernde politische Willensbildung.