© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/16 / 11. März 2016

Von Hegel führte kein Weg zu Hitler
Der linke italienische Philosoph Domenico Losurdo korrigiert fundamentale Mißverständnisse
Eberhard Straub

Die Bundesrepublik wird nicht müde, ihre Verwestlichung zu feiern. Denn sie ermöglichte, wie es immer wieder heißt, den freiesten Staat, den es je auf deutschem Boden gab, eben Westdeutschland. Die sogenannte deutsche Vereinigung seit 1990 wurde und wird weiterhin als Mission verstanden, die Eingeborenen in Dunkeldeutschland umsichtig zu betreuen, bis sie endlich ihren Platz unter den schon längst von allen deutschen Übeln erlösten Westdeutschen einnehmen dürfen. Nie wieder Deutschland! 

Das fordern in mannigfachen Variationen die Legitimisten einer großwestlichen Werte- und Glaubensgemeinschaft. Denn in der vorwestlichen deutschen Geschichte lauern überall Gefahren, weil sie mit ihren fatalen Sonderwegen konsequent zu Adolf Hitler führte. Dieses schlichte Bild deutscher Volkspädagogen hält Domenico Losurdo in seinem Buch „Von Hegel zu Hitler?“ für ein Zerrbild, dessen widersprüchliche Geschichte seine Kritik und seine mitreißende Lust an der Kritik herausfordert. Dieser italienische Philosoph und Historiker politischer Ideen und Ideologien gehört zu den besten und originellsten Kennern der deutschen philosophischen und sozialen Entwicklung seit Kant. Dennoch schützen sich die bekennenden Westdeutschen ängstlich vor der möglichen Verführung durch seine intellektuelle Brillanz und Sorgfalt, indem sie ihm einfach aus dem Wege gehen und jede Diskussion scheuen.  

Losurdo ist nämlich Mitglied des Partito dei Communisti Italiani und allein deshalb schon für Verfassungspatrioten verdächtig. Seine ironische Distanz zu den westlichen Weltbildfabrikanten von Ralf Dahrendorf über Jürgen Habermas zu Heinrich August Winkler macht ihn gar gefährlich für die Gemeinschaftskunde, die hierzulande mit historisch-politischem Bewußtsein verwechselt wird. Bundesdeutsche Verlage meiden deshalb den historischen Dialektiker, dem sie geistig nicht gewachsen sind. 

Allerdings gibt es Ausnahmen wie den linken Papyrossa-Verlag, der tapfer mit seinen Autoren, darunter Domenico Losurdo, daran erinnert, daß Links- sein nichts mit Heublumenbädern und sanften Gemütsmassagen zu tun hat, sondern mit dem Denken, das zuweilen schmerzen kann. Die Bundesdeutschen haben es hingegen gern bequem und gemütlich, sie denken mit dem Herzen und fühlen mit dem Verstand. Sie schwärmen für wärmende Werte und frösteln bei herzloser Gedankenakrobatik, mit welcher Hegel seelenlose Kunststücke wie ein virtuoser Gaukler feilbot, ohne je leeren Seelenraum zu füllen. 

Das warfen schon früh echte Deutsche aller Art, vor allem liberale wie der Literaturwissenschaftler Rudolf Haym, dem kalten, verwestlichten Hegel vor, entfremdet deutscher Art und treuherziger deutscher Freiheit zu sein, die sich im innigen Austausch unerschöpflicher Individualitäten als authentischer Daseinsübereinstimmungen in einer Willensgemeinschaft äußert. Hegel galt diesen Verkündern germanisch-deutscher Freiheit als Mann des Staates und mechanischer Vernunft, verdorben durch Franzosen, dem Inbegriff westlicher Staatsgesinnung und Staatsvernunft. 

Als „Westler“ irritierte Hegel liberale Deutsche

Darauf weist Domenico Losurdo hin. Die französischen Systematiker wollten, wie es in immer neuen Variationen hieß, in ungebrochen absolutistischer Tradition, die sich in der Revolution vollendete, das einzelne, konkrete Leben einschränken und vertilgen zum Vorteil des abstrakten großen Ganzen, des Maschinenstaates. Die Franzosen als Systematiker fürchteten das Individuum und seine Freiheit. In diesem Sinne schilderte Alexis de Tocqueville den französischen Sonderweg. Mit Sorge beobachtete der Liberale, wie Hegel als Philosoph des Staates und der ohne Staat wirkungslosen Weltvernunft auf westliche, französische Irrwege geriet. 

Aus Frankreich, aus dem Westen, winkte also nicht verführerisch der Geist der Freiheit, sondern der Wille zur totalen Erfassung in homogenisierender Staatsbürgerlichkeit. Mit Frankreich und dem Westen verbanden auch Briten gleich den Deutschen und liberalen Franzosen staatliche Organisationstüchtigkeit, Phantasielosigkeit und Untertanengesinnung, während im germanisch-protestantischen Norden, dem sich englische Insulaner verwandt fühlten, der Geist der Freiheit und lebendige Vielfalt für natürliche Entwicklung aller vitaler Energien sorgten. Der französische  Westen stand für schematisierenden Rationalismus, für öde Künstlichkeit, Deutschland und der germanische Norden für Spontaneität, Mannigfaltigkeit und Lebensfülle in voller Freiheit.  

Mit solchen Konstruktionen hatte Hegel nichts zu tun. Gegen den Mythos gleichsam von Natur aus ewiger Identitäten kämpfte er entschieden. Die deutsche Freiheit schien ihm genausowenig naturgegeben wie der französische Wille zu Staatlichkeit. Er mißtraute der Natur. Der Mensch lebt für ihn in der Welt als Geschichte, in der Kultur, und deshalb in ständiger Veränderung. Die Geschichte ist das fortschreitende Reich der Metamorphosen bewirkenden Vernunft. 

In der Französischen Revolution feierte Hegel einen herrlichen Sonnenaufgang, und er vergaß nie die erhabene Rührung und den Enthusiasmus des Geistes, mit dem sie die Geister ergriff. Eben als „Westler“ irritierte er liberale Deutsche. Aber als Westler unterschätzte er nicht die Bedeutung der deutschen und seiner Philosophie, die dem politischen Elan der französischen Revolutionäre eine Theorie und philosophische Berechtigung und Bedeutung verlieh ähnlich der Reformation als kritisch-befreiender Bewegung. 

Auch das deutsche Volk hat seine revolutionären Traditionen, worauf der Hegelschüler Friedrich Engels beharrte, denn schließlich war die deutsche Arbeiterbewegung deren Erbe. Das war ihr nicht immer klar. Karl Marx schalt erbittert Wilhelm Liebknecht einen Ignoranten, weil er die Unverschämtheit besaß, einen Kerl wie Hegel mit dem Wort Preuße abzufertigen. 

Die zerfahrene, widersprüchliche  Diskussion um den angeblichen Staatsvergotter Hegel und den Philosophen des Untertanengeistes hat viel mit der Dämonisierung Preußens zu tun. Sie findet ihren Höhepunkt im Ersten Weltkrieg, als „der Westen“ sich als Schutzmacht des Individualismus und der Freiheit gegen den Kollektivismus und die totalitäre Gewalt preußisch-deutscher Traditionen etablierte. Auch deutsche Sozialdemokraten stimmten in diese Polemik ein, gegen Rechte kämpfend und zugleich gegen Lenin, Stalin und die Russische Revolution. Hegel war nun der Dämon schlechthin staatlicher Omnipotenz und eines gesellschaftlichen Totalitarismus. Lenin sah freilich in den deutschen Befreiungskriegen 1813 bis 1815 ein Modell für den Freiheitskampf der Sowjetunion und würdigte in Hegel den Philosophen der Befreiung. 

Übrigens paßte Hegel weder in das antistaatliche Programm Adolf Hitlers noch Alfred Rosenbergs. Beide stellten dem kalten, künstlichen Staat des Westens Volk und Bewegung gegenüber, die vom Druck seelenloser, die Gemeinschaft lähmender Staatlichkeit erlösen sollten. Das hieß, sich von Hegel unbedingt frei zu machen. Von Hegel führte kein Weg zu Hitler. Das materialreiche Buch veranschaulicht freilich, in welche Widersprüche sich Geschichtspolitik verwickelt, die sich vom konkreten historischen Moment entfernt und im Reiche des Beliebigen beliebig ihre Positionen austauscht, weil nie Begriffen verantwortlich. 

Domenico Losurdo: Von Hegel zu Hitler? Geschichte und Kritik eines Zerrbildes. Verlag PapyRossa, Köln 2015, broschiert, 181 Seiten, 19,80 Euro