© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/16 / 11. März 2016

Bis zur Selbstmarginalisierung
Bei der Brüsseler Forschungsförderung stehen Geisteswissenschaftler ganz hinten an
Dirk Glaser

Seit über 100 Jahren stehen Geisteswissenschaftler unter Rechtfertigungsdruck. Kein Geringerer als Kaiser Wilhelm II. forderte 1890 auf Preußens erster großer Schulkonferenz, man solle weniger Griechen und Römer und mehr Deutsche erziehen. Deutsche Techniker und Ingenieure vor allem, die das Reich als Industriemacht beim Kampf um einen Platz an der Sonne besser gebrauchen könne als Homer- und Horaz-Exegeten.

Wenngleich des Kaisers neuer bildungspolitischer Kurs etwa dem Ruf der Berliner Universität als Weltzentrum der Klassischen Altertumswissenschaften keinen Abbruch tat, floß vor 1914 den naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen doch merklich mehr Geld zu. Gleich zwei neue Technische Hochschulen wurden in Danzig (1904) und Breslau (1910) gegründet, und in Berlin entstand seit 1910 das mit naturwissenschaftlichen Kaiser-Wilhelm-Instituten bestückte „deutsche Oxford“.

Eine Aufwärtsentwicklung, die allerdings der Erste Weltkrieg jäh unterbrach. Und weil germanistische oder historische Seminare weit weniger kosten als Labore und Versuchsmaschinen, erlebten die Geisteswissenschaften in der armen, von Wirtschaftskrisen gebeutelten Weimarer Republik einen unverhofften Aufschwung, bevor 1933 wieder die Stunde der „praxisnahen“, zumal rüstungsrelevanten Fächer schlug. Nach 1945, da in der Bonner wie in der Pankower Republik gleichermaßen zwecks Legitimationsbeschaffung und Sinnstiftung gefördert, hob sich das Ansehen der Geisteswissenschaftler erneut. Im Westen verwöhnte sie nach 1960 zudem eine wundersame Stellenvermehrung, da es galt, die vom Altphilologen Georg Picht angekündigte „Bildungskatastrophe“ zu verhindern.

Zunehmende Einforderung von mehr „Nützlichkeit“

Diese Herrlichkeit, zumindest in den historisch-philologischen, den philosophisch-theologischen Fächern, endete in den siebziger Jahren. Denn von der sozialliberalen Bildungsreform profitierten primär die Sozialwissenschaften, da sie „Gesellschaftsveränderung“ hin zu einer „besseren Welt“ versprachen. Mit der Folge, daß sich Humboldts Erziehungsziel, die an antiken Vorbildern orientierte Bildung selbstbestimmter, geistig freier Persönlichkeiten, in den Lehrplänen verflüchtigte. 

Bereits in den Achtzigern, als kaum fünf Prozent der Gymnasiasten das Fach wählten, drohte das Griechische vollständig aus dem Bildungskanon zu verschwinden, und gleichzeitig lernten noch nie so wenig Schüler Latein. Der Niedergang der alten Sprachen hat sich seitdem ungebremst fortgesetzt. Auch deshalb, weil es ihren Lobbyisten am schwersten fiel, sich unter dem von der „Bologna-Reform“ erhöhten Druck immer unduldsamer erhobener Forderungen nach „Nützlichkeit“ modisch und marktgängig so aufzuputzen wie etwa die Neuphilologen, die ihr Heil im Umbau ihrer Fächer zu Kommunikations- und Medienwissenschaften suchen, die sich den Gender Studies andienen oder sich in den Pferch politisch korrekter „Diversity“-Unterhaltung zwingen.   

Offenbar ist damit vielerorts die letzte Phase der Selbstmarginalisierung erreicht. Darum verwundert es nicht, wenn es in der Brüsseler Forschungsförderung kein eigenes Programm für Geistes- und Sozialwissenschaftler mehr geben sollte. Erst der Protest von 25.000 Forschern, die einen offenen Brief an die EU-Kommission unterzeichneten, führte dazu, daß im Rahmenprogramm „Horizont 2020“ der Schwerpunkt „Gesellschaftliche Herausforderungen“ mit einem auf Geistes- und Sozialwissenschaftler zugeschnittenen Unterpunkt, „Europa in einer sich verändernden Welt“, versehen wurde. 

Mehr als ein Almosen sei das nicht, wie der Leipziger Journalist Benjamin Haerdle nachrechnet (Deutsche Universitätszeitung, 2/2016). Man könne daher mit Angela Schindler-Daniels, die „Net4Society“, das europäische Netzwerk nationaler Kontaktstellen für Sozial-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften, koordiniert, mit Fug und Recht beklagen, daß hier eine „maßgebliche Wissenschaftscommunity zunehmend abgekoppelt“ werde von der Forschungsförderung der EU. 

Als „maßgeblich“ stuft die Kommission diese Disziplinen jedoch schon lange nicht mehr ein. Von den 29,7 Milliarden Euro des Schwerpunkts „Gesellschaftliche Herausforderungen“ entfielen daher, also vor dem Forscherprotest, lediglich 166 Millionen, kaum vier Prozent, auf die „abgehängten“ Sozial- und Geisteswissenschaftler. Doch selbst dieser kümmerliche Betrag zeigt bei detaillierter Aufschlüsselung, daß die Geisteswissenschaften im engeren Sinne, Philologen und Historiker, ganz hinten anstehen. 

Aus dem ohnehin kleinen Topf werden nämlich in erster Linie Politologen, Soziologen, Psychologen, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler alimentiert, die Historiker gehen hingegen mit fünf Millionen fast leer aus. Was nicht zuletzt daran liege, wie der Siegener Soziologe Christian Lahusen meint, daß die von Brüssel für Antragssteller vorgegebenen Themen einen „engen Anwendungsbezug“ hätten oder „zu stark Richtung Politikberatung“ gingen. 

Hauptsächlicher Nutzen für die Politikberatung

Obwohl sich deutsche Soziologen wie er weiterhin als „Grundlagenforscher“ verstünden, scheint das Gros der vom Brüsseler Geld angelockten Sozialwissenschaftler kein Problem mit solchen „Verengungen“ zu haben, während sich die immer noch zu „unpraktischen“ Geisteswissenschaftler von vornherein nicht eingeladen fühlen sollen. Als Silberstreif am „Horizont 2020“ dürfen sie Haerdles Artikel indes entnehmen, daß die Kommission Besserung gelobt habe. Künftig wolle man nur noch solche Themen ausschreiben, die ohne Sozial- und Geisteswissenschaftler nicht adäquat zu behandeln seien. Ob damit die unter diesem Dach etablierte Privilegierung der für die Politikberatung „nützlicheren“ Sozialwissenschaftler endet, ist zu bezweifeln.