© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/16 / 11. März 2016

Auf der Suche nach einer neuen Lebendigkeit
Hundert Jahre Dadaismus: Mißvergnügte, gelangweilte Bürger flüchteten sich in eine eigene Welt
Eberhard Straub

Dada hat die Weltanschauungen durch seine Fingerspitzen rinnen lassen. Dada ist der tänzerische Geist über den Moralen der Erde. Dada ist die große Parallelerscheinung zu den relativistischen Philosophien dieser Zeit. Dada ist kein Axiom. Dada ist ein Geisteszustand, der unabhängig von Schulen und Theorien ist, der die Persönlichkeit selbst angeht, ohne sie zu vergewaltigen.“ Mit solchen Paradoxien umriß der Schriftsteller Richard Huelsenbeck eine ästhetische Bewegung, die sich vor hundert Jahren in Zürich im „Cabaret Voltaire“ konstituierte und bald in Berlin, Paris, Köln oder Hannover auf sich aufmerksam machte.

Dada kann man nicht begreifen, man kann es nur erleben. Dada ist auf die Einzelnen angewiesen, die sich aus allen Zwängen lösen und als einzige mit ihrem Eigensinn zur Freiheit finden in der dauernden Spannung des Ich mit den anderen und Fremden. All diese Erwartungen waren nicht besonders originell. Sie waren der Ausdruck eines Unbehagens bürgerlicher Ästheten an der bürgerlichen Kultur und ihren Lebensformen, wie es sich seit der Jahrhundertwende um 1900 immer häufiger äußerte.

Beliebigkeit aller Ausdrucksformen

Die Unverbindlichkeit sämtlicher Ideen und die Beliebigkeit aller Ausdrucksformen veranlaßte sie zu der aufgeregten Suche nach neuer lebendiger Einheit von Staat, Gesellschaft, Geist und Leben, nach dem sozialen Gesamtkunstwerk, in dem die offenkundige Krise  überwunden und die mit ihr verbundene, quälende Langeweile verscheucht werden würde. Die Bildungseinrichtungen enttäuschten. Die Universität hatte jede Beziehung zu der Wirklichkeit verloren, die mittlerweile in viele Wirklichkeiten zersplitterte. Das Theater erwies sich gerade nicht als moralische und sozialästhetische Anstalt. Richard Wagners große Hoffnung, mit neuen Mythen, neuen Bildern und Klängen den Aufbruch eines neuen Menschen in neuen Gemeinschaften vorzubereiten, war an der bourgeoisen Trägheit vorerst gescheitert.

Die mißvergnügten Bürger, die am Bürgertum litten, flüchteten in eine eigene Welt, in die Boheme, die eine Vorahnung vom kommenden wahren Leben gewähren sollte. Leben war das mächtige, verheißungsvolle Zauberwort, das heiße, freie, nicht mehr durch Konventionen und Normen entfremdete Leben. 

Überall lauert die Langweile. Die Desperados, die Verzweifelten wehren sich je auf ihre Art als Prophet, als Künstler, auch als Staatsmann oder zuweilen nur als Hochstapler gegen diese niederdrückende Atmosphäre. Sie wehren sich im Kaffeehaus, wo der Weltuntergang und die Wiedergeburt des Menschen geprobt werden. Kaffeehäuser und Boheme gab es indessen überall. Aber Schwabing resümierte gleichsam in der Idee von Wahnmoching, dem Weltvorort der Kommenden, alle Erwartungen der neu zu bestimmenden Lebensmächte.

Hugo Ball, der im Februar 1916 in Zürich das „Cabaret Voltaire“ gegründet hatte, war nach vielen Umwegen zuvor in Schwabing gelandet oder gestrandet. „Du Lebendiges, du Caféhaus“ stammelte ekstastisch sein Freund Ludwig Meidner. Es war die tumultuöse Arche der Enormen, der Blutleuchten und spirituellen Vitalisten. Solche Esoteriker feierten Schwabing als Dungloch der Zeiten, aus dem kosmische Nebel und Ersatzreligionen aufstiegen, wo die Geister in phantastischsten Kostümen noch zu wandeln wagten. Diese Sucher und Seher waren allesamt Gläubige, die mit prophetischer Einbildungskraft danach strebten, Kunst, Religion, Leben und Geist zu versöhnen. Unter dieser Voraussetzung konnten endlich die häßlichen Bürger überwunden werden, indem diese sich – verjüngt und schön geworden – in spontaner Werdelust zu beseelten Kollektiven zusammenschließen, frei und doch eins mit den anderen. 

Der Überdruß an der bürgerlichen Welt, ihrer technischen Rationalität, ihrer herzlosen Wissenschaft und rein kommerziellen Kunst, vereinte hochherzige Schwärmer, Lebens- und Landreformer, Mystiker, Sexualromantiker und Asketen. Im Kaffeehaus ereignete sich die Götterdämmerung des bürgerlichen Ästhetizismus. Dort wurden wie von Wagners Brünnhilde die starken Scheite geschichtet zum befreienden Weltenbrand.

Den großen Weltenbrand lösten aber in der schnöden Wirklichkeit die häßlichen Bürger aus. Der bürgerliche Krieg als Erlöser, als Wegbereiter einer durch Feuer geläuterten und gekräftigten Natur, versetzte viele Bohemiens in momentane Verzückung. Viva la muerte! Es lebe der Tod, wie die Spanier immer wieder riefen. War doch der Tod die Bedingung dafür, daß sich neues Leben strahlend aus den Ruinen erhebe!

Hugo Ball packte der Ekel vor Deutschland

Der Feind der Technik und der Maschinen, Hugo Ball, schwärmte von den „furchtbaren Schönheiten und Buntheiten“ des Krieges, vom Tempo der Bewegung, von Panzerzügen und Luftschiffen. Da der Lebensdynamiker kampfuntauglich war, zog er sich nach Zürich zurück. Bald packte ihn der Ekel vor dem Krieg und vor Deutschland, das ihn verursacht und damit die Menschheit verraten habe. Deswegen hoffte er – gar nicht pazifistisch – auf den Sieg der natürlich noch unverdorbenen Franzosen und Russen über die lebensfeindlichen Techniker und Intellektualisten, die er in den Deutschen anprangerte. 

Im „Cabaret Voltaire“ in Zürich inszenierte er zusammen mit Tristan Tzara, Hans Arp, Marcel Janko und Richard Huelsenbeck Dada als den Protest der Sinnlosigkeit gegen einen sinnlosen Krieg, in dem die bürgerliche Welt unterging. Dort spielten sie mit dem Schutt, den billigen Resten beim Ramschausverkauf bürgerlicher Kulturgüter. Allerdings mußten die Dadaisten bald erkennen, daß auch Dada zu der Welt gehörte, die es bekämpfte. Dada zog seinen Sinn und seine Bedeutung aus der Negierung der bürgerlichen Welt. Wenn diese sich aber selbst auflöste, im Kriege gleichsam ein dadaistisches Gesamtkunstwerk ungehemmter Zerstörungslust aufführte, verlor der Protest der Sinnlosigkeit seinen besonderen Sinn. Das Leben, die Wirklichkeit, war dadaistischer als die Kunst. Bei der urlautlichen Gewalt der Waffen wirkte das Raunen sehr gesuchter Naturlautgedichte wie ein sehr bürgerlicher Jux in einem dämonisch ausstaffierten Café. Der ästhetische Aufbruch in eine neue Welt blieb in den Trümmern der alten hängen.

Gadji beri bimba / glandiri lauli lonni cadori / Gadjiama bim beri glassala“, dieses feierliche Unsinnsgedicht Hugo Balls ist nur Nachhall des urlautlichen Lallens der reinen Naturkinder, der Rheintöchter Richard Wagners: wagala weia! / wallala weiala weia! Und schon 1914 spielte in dieser Traditon virtuos August Stramm in seinem Gedicht „Menschheit“: „Töne Töne / Rufe Rufe/ Klappen Klarren/ Klirren Klingen/ Surren Summen/ Brummen Schnurren/ Gurren Gnurren/ Gurgeln Gnurgeln/ Pstn Pstn / Hsstn Hsstn/ Rurren Rurren“ usw. usf.

Auch der Bürgerschreck war längst kolossal bürgerlich geworden und verschreckte keinen mehr. Der aus Böhmen stammende Schriftsteller Walter Serner (1889–1942) resignierte deshalb schnell: „Alles wird selbstverständlich. Man lügt, betrügt, säuft, schläft bei, betet, ist Sozialist, Royalist, Philatelist, Sänger, Suffragette und Soldat. Aber das geschickte Gespenst der Langweile steht weiß hinter allem und fängt mit einem kurzen Griff die ganze Bande“.

Nicht die Kunst, dies bürgerliche Phänomen, gewährte denen neue Sicherheiten, die zurück zur Ordnung wollten, sondern die Kommunistische Partei oder die katholische Kirche. Hugo Ball suchte bald als neubekehrter katholischer Christ im mütterlichen Schoß der Kirche die Geheimnisse ursprünglicher Lebensfülle und die Selbstauflösung im Zusammenhang mit dem unzerstörbaren Ur-Einem. Beides fanden Walter Serner, George Grosz oder John Heartfield in der kommunistischen Rechtgläubigkeit vorübergebend oder dauernd. Gleichsam als nachbürgerliche Rheintöchter schwammen sie gewissenhaft unter der trüben Wirklichkeit, dort, wo die Welt als ihr Wille und ihre Vorstellung hell und strahlend wenigstens für sie war.