© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/16 / 11. März 2016

Wenn der Saft einschießt
Streit unter Intellektuellen: Peter Sloterdijk, Rüdiger Safranski, Herfried Münkler und die Asylkrise
Thorsten Hinz

Der Philosoph Peter Sloterdijk und sein Kollege Rüdiger Safranski haben jüngst ein paar Feststellungen zur sogenannten Flüchtlingskrise publiziert. Im Interview mit der Zeitschrift Cicero sagte Sloterdijk, Deutschland habe sich „der Überrollung preisgegeben“. Es gebe jedoch keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung (JF 6/16). In der Schweizer Weltwoche äußerte Safranski, Merkel besäße kein „demokratisches Mandat“, Deutschland „mit Abermillionen islamischer Einwanderer“ zu verändern. Er plädierte dafür, grenznahe befriedete Zonen zu errichten, wo die Bewohner der Bürgerkriegsgebiete Schutz vor den Kämpfen finden können.

Die Worte waren deutlich, doch weder originell noch gar exzentrisch. Sie waren politisch, denn sie betonten den Interessenkonflikt zwischen innen und außen, zwischen den Millionen, die bereits nach Deutschland geströmt oder auf dem Weg hierher sind, und dem deutschen Staatsvolk: eine Scheidung, die Politik und Medien gewöhnlich meiden.

Die Einladung zur Debatte barg damit von vornherein ein Risiko, und tatsächlich waren die Reaktionen darauf fast ausschließlich für den virtuellen Mülleimer geeignet. Sie bestätigten Sloterdijks Aussage: „Wir haben das Lob der Grenze nicht gelernt.“ In Deutschland glaube man immer noch, „eine Grenze sei nur dazu da, um sie zu überschreiten“. Das entspricht dem politischen Bewußtseinsgrad von Halbstarken, die sich der Fragilität der eigenen Umstände nicht bewußt sind. 

Die wichtigsten Stichworte lauteten: „Stahlhelm“, „eisiger Wind von rechts“, „apokalyptische Endzeitrhetorik“, „der Stammtisch wird salonfähig“. Der Höhe- beziehungsweise Tiefpunkt war mit Richard David Precht (laut Sloter-

dijk „ein kleiner Kläffer“, „ein Philosophie-Journalist aus der Narren-Hochburg Köln“) erreicht, der sich an den Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß erinnert fühlte (JF 8/16).

Die einzige Reaktion, auf die sich einzugehen lohnt, stammt von dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler, den klügsten Kopf seiner Branche, der indes Safranski und Sloterdijk in der Zeit in aggressiver Weise vorwarf, nicht „analytisch zu durchdringen, worüber sie redeten“.

Münkler hatte doppelten Grund, sich von Sloterdijks „Lob der Grenze“ düpiert zu fühlen: als Wissenschaftler und als Politikberater. In seinem neuen Buch „Kriegssplitter“ (JF 6/16) legt er explizit dar, daß in der sich abzeichnenden Weltordnung die Kontrolle der Transport-, Informations- und Kommunikationswege entscheidend sein wird, während „der konkrete Raum im Sinne eines zuverlässig kontrollierten Territoriums“ an Bedeutung verliert. Die Vehemenz und Distanzlosigkeit, mit der er Merkels sommerlichen Entschluß zur Grenzöffnung verteidigte, nährt die Vermutung, daß er nicht ganz unbeteiligt daran war. Das Ziel sei jedenfalls gewesen, ein Chaos auf der Balkanroute zu vermeiden, Zeit für eine „europäische Lösung“ zu gewinnen und Deutschlands Isolierung zu verhindern. 

Heute steht Münkler vor den Trümmern seiner Beratertätigkeit. Deutschland ist isoliert und Europa abhängig von der Türkei. In der Kölner Silvesternacht zeigte sich, wie sträflich es sich auswirkt, die Qualität der Zuwanderung außer acht zu lassen. Gerade die forcierte Durchlässigkeit der Grenzen ruft wieder in Erinnerung, daß der „konkrete Raum“ der eigene, von den Vorfahren besiedelte, gehegte, kultivierte Lebensraum ist und läßt ein neues Bewußtsein dämmern, daß es falsch ist, ihn preiszugeben. Für solches „Wurzelschlagen im Sinnreich der Geschichte“ (Carl Schmitt) bietet das mediokre Nomadentum, das Merkels Politik à la longue als Zukunftsvision offeriert, keinen Ersatz. Das widerlegt Münklers Weltordnungstheorie zwar noch nicht, offenbart aber ihre dialektische Leerstelle, in die Sloterdijk und Safranski hineingestoßen sind.

Sloterdijk hat nun vorige Woche gleichfalls in der Zeit eine – übertrieben lange und scharfe – Antwort veröffentlicht. Er konstatiert Münklers Regression zum „Kavaliers-Politologen“, der „Frau Merkels unbeirrbar konfusem Handeln ein grand design unterstellt“ und „als Mitwisser einer an der Spitze des deutschen Staatswesens hervortretenden strategischen Vernunft hervortreten“ möchte – Überlegungen, die vor fünf Monaten in dieser Zeitung in höflicheren Wendungen formuliert worden waren. („Ausputzer der Kanzlerin“, JF 40/15) Sloter-

dijks Kernsatz aber lautet: „Sind nach mehreren Jahren der gewollten Überrollung erst einmal fünf Millionen Asylanten im Land, kann man nur noch dafür beten, es möge einen Masterplan gegeben haben.“

Diesen einzufordern beziehungsweise auf sein Fehlen hinzuweisen, wäre die primäre Aufgabe einer parlamentarischen Opposition. Sie existiert aber faktisch nicht beziehungsweise ihre Konfusion übertrifft die der Kanzlerin. Von den Medien ist nichts zu erwarten, und an den Hochschulen ist die Lage trostlos.

So steht Münkler an der Berliner Humboldt-Universität unter dem Verfolgungsdruck einer radikalisierten Studentenschaft. Ähnlich ergeht es dem Osteuropahistoriker Jörg Baberowski – einer der seltenen aktiven Professoren, die Merkels Politik offen attackieren. An der Karlsruher Hochschule für Gestaltung, die Sloterdijk bis vor kurzem leitete, ist sein ehemaliger Assistent und Doktorand, der Philosoph Marc Jongen, gerade durch den neuen Rektor Siegfried Zielinski von allen leitungsrelevanten Posten entbunden worden, weil er Mitglied und Parteitheoretiker der AfD ist. Zielinski will laut SWR ein Zeichen setzen, daß die Hochschule eine von kritischem Engagement, Gastfreundschaft, Erfindungsreichtum, Neugier und Toleranz getragene Einrichtung ist. Mit diesen impliziten Drohformeln ist das Feld abgesteckt, auf dem das politische Denken weiter verkümmert.

Die kurzen Gedanken werden durch die neuen Medien zusätzlich präferiert. Den Entschluß Österreichs zum Beispiel, Tagesquoten für Asylbewerber einzuführen, kommentierte CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer kurz nach Bekanntwerden der Entscheidung per Twitter: „Die Österreicher machen’s. Also müssen wir es auch machen.“ Fernseh-Charge Jan Böhmermann reagierte mit der erwartbaren Analogie: „Wenn uns Deutsche die Geschichte eines gelehrt hat, dann, daß die Österreicher politisch immer die allergeilsten Ideen haben.“ Das wiederum war Stern, Bild und Focus eine eigene Meldung wert, wobei letzterer kommentierte: „Das bringt die festgefahrene Debatte zwar nicht weiter, ist aber auf jeden Fall gut gekontert.“

Die politische Brisanz hatte sich damit endgültig im Sekundärbereich der Unterhaltung verloren. Denkt man sich das Gekeife von Claudia Roth, das Genöle von SPD-Vize Ralf Stegner und Norbert Röttgen von der CDU dazu, der bei jeder Gelegenheit das Anti-Rußland-Mantra der amerikanischen Neocons herunterbetet, dann kann man Münkler, der „einen gravierenden Mangel an strategischer Reflexivität in der politischen Kultur dieses Landes“ beklagt, nur recht geben – und sieht ihn ganz nahe bei Sloterdijk, der seinerseits die Frage stellt: „Sind unsere Sorgen nicht zu real, als daß sie auf die Ebene von Gezänk zwischen Krisen-Interpreten gezogen werden dürfen?“ 

Viel austragen wird der Appell an die Vernunft wohl nicht. Woher soll die Fähigkeit zu strategischem Denken denn kommen? Der Mangel ist nicht erst ein Problem unserer Tage. 1913 veröffentlicht der junge Kurt Riezler, der Schwiegersohn Max Liebermanns und Vertraute des Reichskanzlers Bethmann Hollweg, unter dem Pseudonym J. J. Ruedorffer ein Buch über die „Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart“. Vorbildlich erschien ihm die außenpolitische Umsicht der Briten. Das politische Genie sei in England nicht häufiger anzutreffen als in Deutschland, doch worauf es ankomme und was die Briten den anderen voraus hätten, das sei „der politische Geist, der die Gesamtheit beherrscht, eine breite politische Oberschicht, deren eingeborene Tradition und geschlossene Denkart einen trefflichen Durchschnitt garantiert“ und die „den Pfuscher nicht duldet“. Die Deutschen hätten „noch ein wenig von den Manieren eines jungen Hundes an sich (...) Der politischen Leidenschaft fehlt der politische Sinn.“ Das sei nicht erstaunlich, denn zu seiner Herausbildung brauche es einer langen Geschichte und Tradition. 

Hundert Jahre später, nach zwei Weltkriegsniederlagen, zwei Diktaturen, nach massiven Traditionsabbrüchen, dem  Austausch und der Fremdkonditionierung der neuen Funktionseliten, ist die Verwahrlosung noch größer geworden. Nur sind den jungen Hunden inzwischen Pawlowsche Reflexe andressiert worden. Sloterdijk: „Bei manchen semantischen Stimuli wie ‘Grenze’, ‘Zuwanderung’ oder ‘Integration’ ist die Futtererwartung des erfolgreich dressierten Kulturteilnehmers so groß, daß der Saft sofort einschießt.“ 

Auch Sloterdijk zollt der Einschüchterungsmacht der Reflexkultur seinen Tribut, indem er die vorkulturellen Reflexe, die hinter solchem Zwangsverhalten lauern – „primäre Beißwut“, „Abweichungshaß und Denunziationsbereitschaft“ – nicht bei den in Amt und Würden befindlichen Wadenbeißern, habituellen Aufsehern und Denunzianten konstatiert, sondern – bei der AfD. Eine taktische Flunkerei, die darauf verweist, daß eine rationale Diskussion innerhalb der vorhandenen Strukturen kaum möglich ist.