© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/16 / 04. März 2016

Europäische Kapitulanten
Handelspolitik: Gewährt die EU China den Marktwirtschaftsstatus, sind Millionen Arbeitsplätze gefährdet
Albrecht Rothacher

Bei Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO im Jahr 2001 schien alles in weiter Ferne: Nur sieben Prozent der EU-Importe stammten aus dem Reich der Mitte. Aus dem einstigen Überschuß von 11,6 Milliarden Euro war zwar schon ein Handelsbilanzdefizit von 45,8 Milliarden Euro geworden, doch der Markt von bald 1,3 Milliarden Einwohnern lockte. Peking versprach jede Menge marktwirtschaftlicher und rechtsstaatlicher Reformen – als Belohnung würde die Volksrepublik dann 15 Jahre später automatisch zur Marktwirtschaft ernannt.

Schlecht verhandelt, denn die Genossen taten nichts dergleichen. Für die kommunistische Führung ist das offiziell nur ein überfälliger Prestigegewinn, ähnlich dem Beitritt der „Volkswährung“ Renminbi (Yuan) zum Korb der Sonderziehungsrechte des IWF, der als „Renaissance Chinas“ bejubelt wurde (JF 24/15). Tatsächlich aber ermöglicht jener neue Rechtsstatus ab 11. Dezember eine neue Exportoffensive ohnegleichen.

Schuldenfinanzierte Überkapazitäten

Chinas Wachstum ist auf sechs Prozent gefallen, überall gibt es schuldenfinanzierte Überkapazitäten, die mit einem um 4,5 Prozent abgewerteten Yuan in den Export drängen. Während der vergangenen zwei Jahre haben sich die chinesischen Stahlexporte verdoppelt: die unausgelasteten Produktionskapazitäten entsprechen dem Zweifachen der EU-Stahlproduktion mit 330.000 Arbeitern in 500 europäischen Standorten. In der chinesischen Kohle- und in der Stahlbranche werden daher 1,8 Millionen Arbeiter ihre Stelle verlieren, kündigte Arbeitsminister Yin Weimin an.

Der Stahlpreis halbierte sich 2015. Gleichzeitig liegen die deutschen Energiekosten 20 Prozent über den chinesischen. Bislang konnte die EU-Kommission bei Dumpingexporten mit Blick auf höhere Vergleichspreise in Drittländern entsprechende Strafzölle erlassen. Von insgesamt 68 EU-Strafzöllen wurden 52 gegen China verhängt. Bei Solarpanelen betragen sie 50 Prozent, um die EU-Industrie vor unlauterem Wettbewerb zu retten. Im Stahlsektor gibt allein es 37 solcher Schutzzölle. Von derzeit 28 anhängigen Anti-Dumping-Verfahren betreffen 16 das Reich der Mitte.

Mit dem China versprochenen Marktwirtschaftsstatus müßte die Kommission anhand von Buchprüfungen vor Ort in China beweisen, daß die chinesischen Hersteller unter ihren Produktionskosten exportieren, um die EU-Wirtschaft zu schädigen. Allein das Verfahren dauert mindestens zwei Jahre, und es wird stets gerichtlich (EuGH) angefochten. Zusätzlich erhält China mit dem neuen Status Zollsenkungen und Abwicklungserleichterungen.

Die 30 betroffenen europäischen Industrien – Textil, Möbel, Elektronik, Stahl, Aluminium, Keramik, Optik, Autoteile – haben daher 2014 Aegis Europe gegründet. In dem nach dem Schild der Athene benannten Verband für „fairen Handel“ spielt die Bonner Solarworld AG eine führende Rolle: Die westliche Photovoltaikbranche wird von der subventionierten chinesischen Konkurrenz am stärksten heimgesucht.

Zusammen mit US-Leidensgenossen gaben sie beim eher linksdemokratischen Economic Policy Institute in Washington ein Gutachten in Auftrag – dessen klares Ergebnis lautet: In der EU werden bis zu 3,5 Millionen (von noch 30 Millionen) Industriearbeitsplätze verlorengehen, davon in Deutschland bis zu 640.000. Der Beitrag der Industrie zum EU-Bruttoinlandsprodukt BIP würde von derzeit 16 auf 14 Prozent sinken. Ursprünglich sollte er bis 2020 auf 20 Prozent steigen. Der EU-Gewerkschaftsdachverband ETUC sieht eine Katastrophe für Industrie und Arbeitsplätze kommen.

Milliardenschwere Einkaufsoffensive

Auch aus den USA gibt es angesichts der Erfolge von Donald Trump und Bernie Sanders ein Nein – Washington warnt die Europäer vor Zugeständnissen. Italien und Frankreich sowie die Mittelosteuropäer, die mit ihren arbeitsintensiven Betrieben am meisten zu verlieren haben, sind strikt dagegen, China zur Marktwirtschaft zu erklären. Die deindustrialisierten Briten, scharf auf chinesisches Kapital und Investitionen, sind wie die Niederländer dafür – der Hafen von Rotterdam wickelt schließlich die meisten chinesischen Container für das Festland ab.

Berlin ist unentschieden: „Deutschland unterstützt die chinesische Forderung grundsätzlich, unter der Voraussetzung des Erhalts eines gewissen Schutzes für die europäische Industrie“, sagt Angela Merkel bei ihrer Shanghai-Visite zu Li Keqiang. Sie kapituliert, entnahm Chinas Premier den Kanzlerworten – die versteckten Drohungen gegen deutsche Investitionen (Genehmigungsentzüge, Steuer- und Umweltkontrollen), Schikanen gegen Importe und der Entzug von Großaufträgen waren abgewendet. Für die Maschinenbauer oder VW, BMW und Daimler ist China der wichtigste Exportmarkt. Auch juristisch scheint die Schlacht ohnehin verloren. Es geht nur noch darum, sektorelle Ausnahmen und verlängerte Übergangszeiten herauszuschlagen, die spätestens bei einem Freihandelsabkommen mit der EU – was Peking abstrebt – obsolet wären.

Seit 2001 hat sich das EU-Handelsbilanzdefizit auf 140 Milliarden Euro verdreifacht. Wenn ein EU-Industriearbeitsplatz eine Wertschöpfung von 35.000 Euro hat, entspricht dies einem Arbeitsplatzverlust von vier Millionen Stellen. Selbst Exportvizeweltmeister Deutschland fährt im China-Handel ein Fünf-Milliarden-Defizit ein. Das der ist Preis für Billigelektronik, Textilien oder Spielzeuge und Taschenrechner für die Massen – und für die politische Feigheit der Eliten.

Und was machen die Chinesen mit 3,2 Billionen Dollar aus dem Export? Sie kaufen ein: in Südost- und Zentralasien Infrastruktur und Rohstoffquellen. In Europa und den USA sind es neben deutschen Mittelständlern die verbliebenen Industrieimperien und ihre Technologien: Volvo wurde von Ford an die Geely Holding verkauft, die PC-Sparte von IBM ging an Lenovo. Die Hausgeräte von General Electric (GE Appliance) gingen im Januar an Haier – gleichzeitig kündigte der US-Konzern an, sein Tubinenwerk in Mannheim mit 1.066 Arbeitsplätz zu schließen sowie in Bexbach, Wiesbaden und Stuttgart Personal abzubauen. Auch der weltgrößte US-Schweinefleischverarbeiter Smithfields ist inzwischen ebenso chinesisch wie die deutsche Privatbank Hauck & Aufhäuser. Bei den Auslandsinvestoren in Deutschland liegt China inzwischen auf Rang fünf. Der Versicherer Ping An Insurance kaufte den Tower Place in London für 327 Millionen Pfund. Chinesische Privatleute blättern Millionenbeträge für Fluchtburgen in den USA, Europa, Australien, Japan und Südostasien hin, um im Zweifel vor Partei und Fiskus sicher zu sein.

Der Staatskonzern Chemchina hat 7,1 Milliarden Euro den Reifenhersteller Pirelli und für 925 Millionen Euro für den Maschinenbauer Krauss-Maffei (ohne Panzersparte) hingeblättert. Derzeit werden 44 Milliarden Franken für den Baseler Agrarchemieriesen Syngenta geboten. Die Aktionäre sind dafür – aber das Komitee für Auslandsinvestitionen (CFIUS) der US-Regierung wird ein Veto einlegen, da Syngenta dort ein Viertel seines Geschäfts macht. Im Wahljahr kommt es schlecht an, wenn die Pestizidproduktion für US-Getreidefelder in chinesische Hände kommt. Was zählt dagegen die bevorstehende Vernichtung der EU-Keramikindustrie mit 100.000 Arbeitsplätzen?